Günter Wallraff könnte sich zurücklehnen und nur mehr Geschichten erzählen. Wie er sich in den 70er-Jahren als Hans Esser verkleidet in die Bild-Lokalredaktion einschlich oder wie er in den 80ern die Rolle von Ali Levent Sinirlioglu, dem türkischen Gastarbeiter, annahm. In 38 Sprachen wurde sein Buch „Ganz unten“ übersetzt, in dem er beschreibt, wie er als Ali die Drecksarbeit der Deutschen machte. Die Schweden haben ihm mit einer Wortneuschöpfung sogar ein Denkmal gesetzt: „Wallraffa“ nennen es die Skandinavier, wenn ein Journalist unter falscher Identität recherchiert.
Wallraffen, das tut der 66-Jährige noch heute. Der hagere Mann mit Oberlippenbart und Brille erzählt gerne vor Publikum, wie er sich in große Konzerne einschleicht. Seit einem Jahr publiziert der Journalist wieder in der Zeit, berichtet von den betrügerischen Geschäften im Callcenter oder vom menschenverachtenden Umgang mit den Mitarbeitern einer Brotbackfabrik. Vergangene Woche besuchte er Wien auf Einladung des Renner-Instituts. Noch immer zieht der Mann, der Hans Esser war, das Publikum an. Der Saal ist bis zur letzten Reihe gefüllt. Wallraff liest vor, wie er sich in die Brotfabrik hineinschmuggelte, wie er am Fließband die Aufbackbrötchen für Lidl abpackte. Wie er sich gleich am ersten Tag die Hand am heißen Blech verbrannte. Der Schichtleiter zeigte kein Mitleid dafür. „Ihr seid billiger als neue Bleche“, erklärte er die Unternehmensphilosophie.
Es sind Sätze wie dieser, die Wallraff antreiben. Seine Reportagen zeichnen sich nicht unbedingt dadurch aus, dass er Skandale aufdeckt. Er macht viel eher alltägliche Ausbeutung plastisch sichtbar. „Wenn ich etwas selber erlebe, habe ich eine ganz andere Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, als wenn ich es vom Hörensagen erfahre“, meint Wallraff. Er sei schon in der Schule schlecht in abstrakten Fächern gewesen, wollte den Inhalt lieber „spüren“.
Aber es steckt nicht nur journalistische Neugier, sondern auch politische Überzeugung in diesem Mann, der sich freiwillig wie Dreck behandeln lässt. Wallraff ist halb Journalist, halb Aktivist. In der Brötchenfabrik wollte er beispielsweise einen Streik anzetteln.
Wallraff ist ein überzeugter Linker, der sich dann besonders freut, wenn er die Unbarmherzigkeit von Kapitalisten decouvriert. Bei der Veranstaltung erzählt er eine sehr bezeichnende Anekdote: In den 70ern recherchierte er im Versicherungshaus Gerling, setzte sich eines Tages in Botenuniform zum Mittagstisch der Direktoren. „Das endete damit, dass der Vorstandsdirektor zu mir sagte:, Sehen Sie mal, das ist wie im Tierreich. Da frisst erst einmal der männliche Löwe, und was er übriglässt, das kriegt die Löwin mit den Jungen. Und danach kommen die Schakale dran. Ich würde sagen, das ist gewachsen. Das ist Natur.‘“ Wallraff nahm diese Aussage damals auf Tonband auf. Er lacht noch heute, wenn er sich zurückerinnert, wie er das Band einem Massenpublikum vorspielte.
Die Auseinandersetzung mit den Angstmachern gefällt Wallraff. Dafür geht er Risiken ein. Als er in den 70ern in Griechenland gegen die Militärdiktatur demonstriert, wird er aufgegriffen und gefoltert. Als in den 90ern der deutsche Geschäftsmann Helmut Hofer im Iran gesteinigt werden soll, will Wallraff heimlich an seiner Stelle ins Gefängnis. Heute ist er froh, dass Hofer doch noch freigelassen wurde: „Aber es hätte mir sogar Spaß gemacht, mich mit so einem Terrorregime anzulegen. Die hätten mich wahrscheinlich nicht umgebracht, aber es hätte mich eine Zeitlang bei Laune gehalten.“
So umtriebig wie Wallraff ist, wundert es einen, dass es zwischendurch so ruhig um ihn geworden war. Der Journalist war krank, wurde an der Bandscheibe operiert, musste das Gehen neu erlernen. Heute läuft er Marathon. Warum er wieder Reportagen schreibt? „Die Situation ist danach. Es ist schlimmer als zu Beginn meiner Arbeit. Die Angst geht in den Betrieben um. Da werde ich gebraucht.“
Wallraff meint das ernst. Er glaubt, dass es auf ihn ankommt. „Meine Arbeit hat bewusstseinsverändernde Wirkung“, meint er. Noch heute werde er von der türkischen Bevölkerung auf das Buch „Ganz unten“ angesprochen, das bei vielen Gastarbeitern ein neues Selbstvertrauen geweckt habe. Auch in der Brotbackfabrik, die Lidl beliefert, bekommen die Arbeiter nun 24 Prozent mehr Lohn.
Ein paar Jahre will er noch recherchieren. 2009 erscheinen ein neues Buch mit Reportagen und ein Kinofilm, für den Wallraff mit versteckter Kamera filmte. Gleichzeitig bereitet er sich auf eine Zeit vor, wenn die Verkleidung im Schrank bleibt. Gemeinsam mit der deutschen Gewerkschaft will er eine Stiftung für junge Journalisten begründen, die im Wallraff-Stil Missstände aufdecken. „Ich muss daran denken, wer in meine Rolle schlüpft, wenn ich das Ganze altersbedingt nicht mehr schaffe.“
Dieser Text ist im Falter 51/08 erschienen.