Bologna ist nicht schuld an der Bildungsmisere. Im Gegenteil: Das große europäische Hochschulprojekt hätte gute Antworten auf sie
Alles begann mit der Unterschrift von Caspar Einem. Der österreichische Sozialdemokrat unterzeichnete als erster europäischer Wissenschaftsminister die Bologna-Erklärung, damals am 19. Juni 1999 in der gleichnamigen Stadt. Von einem „Europa des Wissens“ ist in diesem Dokument die Rede und vom „Aufbau eines europäischen Hochschulraums“, von „Mobilität“ und „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“ (Dokument als PDF hier). Mittlerweile haben sich 46 europäische Länder diesem gemeinsamen Ziel verpflichtet – von Österreich bis Portugal, von Norwegen bis zur Türkei.
Doch von den hehren Idealen von einst scheint nicht viel geblieben zu sein. Dieser Eindruck entsteht zumindest, wenn man die Kommentare mancher deutscher Qualitätszeitungen oder die Brandschriften der Audimax-Besetzer liest. Da wird von einem „wissenschaftsfernen Zwangskorsett“, der „Zerstörung der Universitäten“ oder dem „neoliberalen Umbau der europäischen Hochschullandschaft“ gesprochen. Am Donnerstag und Freitag wird in Wien und Budapest die Ministerkonferenz stattfinden, die Audimaxisten planen einen Gegengipfel, Demonstrationen und Sitzblockaden in den Straßen Wiens. Während die europäischen Wissenschaftsminister in der Hofburg über die nächsten zehn Jahre Bildungsreform nachdenken, erklären die Studierenden draußen „why we hate Bologna“.
Sie hassen Bologna zu Unrecht. Der Prozess hat mehr gute als schlechte Seiten. Er ist ein Projekt der europäischen Integration und will einen einheitlichen europäischen Hochschulraum schaffen, in dem Menschen ohne Hürden in andere Länder studieren gehen und der akademische Austausch nicht an der Landesgrenze endet.
Über die neuen Bachelor- und Masterstudien schimpfen viele. Sie lösten das bisherige Diplomstudium und den Abschluss als Magister ab. Doch das ist nur die Architektur, das Gerüst der Reform. Die Idee dahinter ist, dass ein möglichst großer Teil der Gesamtbevölkerung Zugang zu höherer Bildung bekommen soll – auch jene, deren Eltern keine Akademiker sind oder die erst im zweiten Bildungsweg auf die Hochschule finden. Im Mittelpunkt der Uni sollen nicht mehr Professoren oder Vorlesende stehen, sondern der Student und die Studentin. Unterstützung, Beratung und Studienpläne, die Rücksicht auf die Studierenden nehmen, all das sehen die Bologna-Dokumente vor, wenn man unter Begriffen wie „studierendenzentriertes Lernen“ oder „soziale Dimension“ nachliest (z.B. im Leuven-Kommuniqué, PDF hier).
Heimische Studenten werden da den Kopf schütteln. Ihre Erfahrungen sind ganz andere: Mit Verweis auf die italienische Stadt wurde ihr Studium gestrafft, ihre Wahlfreiheit und Entfaltungsmöglichkeit wurden eingeschränkt. So hässliche Begriffe wie „Voraussetzungsketten“ oder „Erweiterungscurricula“ verhindern, dass sie selbst die Geschwindigkeit oder den Schwerpunkt ihres Studiums bestimmen. Ihre Wut darüber ist berechtigt, doch sie trifft nicht die Verantwortlichen: Bologna hat mit diesen Fehlentwicklungen nichts zu tun.
Das ist das große Missverständnis. Und es erklärt, warum ausgerechnet österreichische und deutsche Studierende in Scharen gegen den neuen europäischen Hochschulraum demonstrieren, nicht aber Dänen oder Spanier. In den deutschsprachigen Ländern diente Bologna den Universitäten als Vorwand, um bei den Massenstudien einen Sparkurs durchzusetzen. Auch die deutsche Politologin Gesine Schwan schrieb unlängst in der Welt: „An den aktuellen Missständen ist weniger Bologna schuld als vor allem die chronische Finanzmisere“.
Miese Studienbedingungen wurden der Reform zugeschrieben. Das war nicht zuletzt deswegen möglich, weil der ganze Prozess auf Freiwilligkeit beruht und bei schlechter Umsetzung keine Sanktionen drohen. So haben die Nationalstaaten zuallererst jene Punkte verwirklicht, die ihnen gerade gelegen kamen.
Auch ist Bologna in einer Zeit des marktradikalen Denkens entstanden, als Universitäten aufgefordert wurden, ihren Nutzen für die Wirtschaft unter Beweis zu stellen oder in internationalen Wettbewerb zu treten. Schon in der Gründungserklärung steht, dass der Bachelor „eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene“ attestieren soll. Diese Facette missfällt selbst manchen Befürwortern. „Der Bildungsgedanke ist in den Hintergrund getreten, und die Anwendbarkeit des Studiums hat eine Gewichtung bekommen, die überschätzt wird“, sagt Erstunterzeichner Caspar Einem heute.
Über Schlagworte wie „Employability“, die Beschäftigungsfähigkeit, lässt sich vortrefflich streiten. Aber es wäre zu einfach, den gesamten Prozess auf diesen Aspekt zu reduzieren. Das wäre so, als würde man die gesamte EU nur mit dem „Teuro“ gleichsetzen.
Für Holländer oder Briten ist die österreichische Kritik schwer nachvollziehbar, die europäischen Studierenden hassen die Reform nicht: „Bologna will sicherstellen, dass jeder europäische Student die gleichen Chancen hat“, sagt die Rumänin Ligia Deca. Sie sitzt der Europäischen Studentenunion vor und ist somit die höchste europäische Studentenvertreterin. „Wir wollen Bologna nicht abschaffen, sondern es kritisch überwachen.“
Die Reform hätte das Potenzial, europaweit den Studierenden den Rücken zu stärken. Statt Manifeste dagegen zu verfassen, könnten sich die Audimaxisten in ihren Forderungen auf Originaldokumente berufen: Da haben auch österreichische Wissenschaftsminister Ideen wie einer „sozialen Dimension“ oder „studierendenzentriertem Lernen“ zugestimmt. Wartelisten, Knock-out-Prüfungen und unzumutbare Studienpläne widersprechen dem.
Die Studentenproteste haben die Symptome der Malaise bolognaise, der angekränkelten Umsetzung von Bologna, verdeutlicht. Alles wieder zurückzudrehen wäre aber Unsinn. Die nächsten zehn Jahre könnten viel mehr dazu dienen, die Reform zur Gänze umzusetzen und die Hochschulen damit studentenfreundlicher zu machen. Im Sinne der „sozialen Dimension“ könnten die Nationalstaaten zum Beispiel mehr Teilzeitstudien, flexiblere Kursangebote für Berufstätige oder gezielte Förderung für Migrantenkinder einführen.
Der Nachbesserungsbedarf ist enorm. Selbst die Mobilität der europäischen Studenten stieg innerhalb der ersten Dekade nicht wesentlich, das Auslandssemester ist weiterhin das Privileg einer Minderheit – obwohl die Mobilität doch ein Kernanliegen der Reform war.
1999 bis 2009 war eine Zeit der Umstrukturierung: Der Magister wurde abgeschafft, europaweit wurden ähnliche Systeme und gemeinsame Begriffe eingeführt. Viel mehr als die grobe Kontur eines europäischen Hochschulraums ist aber noch nicht zu erkennen. Die Vision kam nicht im Hörsaal oder den Unigremien an. Das muss sich ändern, wenn Bologna zu einem wirklichen Erfolg werden soll.
Dieser Text ist im Falter 10/10 erschienen. Illustration: Jochen Schievink