Was ist nur los mit diesen Kids? Warum reden sie so seltsam? In Wien entwickelt eine Migrantengeneration ihren eigenen Slang. Höchste Zeit, ihnen zuzuhören
„Wie geht’s, Hurensohn?“, „Seas Wixer!“ So begrüßen sie sich. „Wir sind Prater“, „Gemma Lugner“. So vertreiben sie sich ihre Zeit. „Du bist Bombe!“ „Oida, i pock di net.“ So machen sie einander Komplimente. In den Wiener Gürtelkäfigen, den Parkanlagen und Gemeindebauten haben die Nachkommen der einstigen Gastarbeiter ihre eigene Sprache gefunden. Artikel und Präposition werden überflüssig, die Kinder sprechen einen Mix aus Wienerisch, Serbisch, Türkisch und anderen Einflüssen.
Ghettodeutsch. Türkendeutsch, Jugendsprache. In Wien gibt es noch keinen eindeutigen Begriff dafür. Wer an einem warmen Frühlingstag durch den Prater flaniert, hört aber überall diesen Slang. „Oida, komm jetzt. Du bist mit mir“, sagt ein Mädchen. Sie zieht ihre Freundin am Arm und will Karussell fahren. „Nein, heast, ich bin nicht mit dir!“, widerspricht die andere. Ein paar Meter entfernt steht eine Gruppe von Jungs. Sie sind erst 14 bis 16 Jahre alt, aber schon extrem cool: Mit Baseballkappe, ärmellosem Shirt und abgebrühtem Blick – der eine trägt den türkischen Halbmond am Halsketterl, der andere die tschetschenische Flagge am Kapperl. „Wir sind TKP“, stellen sich die Burschen vor – so als ob die ganze Welt wüsste, dass „TKP“ der Theodor-Körner-Park in Meidling ist. Die Grünanlage ist der Mittelpunkt der Gang, gerne gehen sie auch in den Prater.
Hier, neben Achterbahnen und Schießbuden, treffen sich viele Kids aus Meidling, Rudolfsheim-Fünfhaus und Brigittenau. Eine Clique aus dem 20. Bezirk ist gerade eingetroffen. „Gemma Space Shot“, sagt die eine. „Willst du Schlange warten?“, fragt die andere und zeigt auf die Wartenden. Ein Bursche fällt ihnen ins Gespräch. „Wo ist Tabak“, will er wissen. Und dann auf Türkisch: „Tabak nerede?“
„Tabak nerede“ ist auf Türkisch mindestens genau so falsch wie „Wo ist Tabak?“ auf Deutsch. Untereinander sprechen die Kids eine vereinfachte Form ihrer Muttersprache oder des Deutschen. „Halbsprachigkeit“ nennen Politiker das und warnen vor Ghettobildung. „Die Entwicklung zu Parallel- und Gegengesellschaften hat längst stattgefunden“, sagt die FPÖ. Selbst die Grünen sind alarmiert. „Viele Kinder beherrschen weder ihre Muttersprache noch Deutsch ordentlich. Das ist die schlechteste Voraussetzung für einen jungen Menschen“, meint die grüne Bildungssprecherin Susanne Jerusalem. Es ist klar, dass im kommenden Wahlkampf viel über diese Jugendlichen geredet werden wird. In den Wiener Pflichtschulen hat bereits jedes zweite Kind Migrationshintergrund.
Ich ficke deine Mutter!
Manchmal ist die Angst vor der Parallelgesellschaft nachvollziehbar. Tatsächlich gibt es jene Kids, die in ihrer eigenen Welt leben und den Anschluss an Bildungsschichten verlieren. In ihrem Freundeskreis gelten eigene Regeln für Kleidung, Verhalten und Sprache. Man trägt gefälschte „Dolce & Gabbana“-Leiberln, die Mädchen schminken sich wie Schaufensterpuppen, wer in der Hackordnung ganz unten steht, den nennt man „Opfer“. Geschimpft wird mehrsprachig: „Kurac“ ist das serbische Wort für Schwanz. „Ananı Sikeyim“ heißt auf Türkisch „Ich ficke deine Mutter“.
Solche Wörter lernt man, wenn man das Jugendzentrum im 20. Bezirk besucht. Im Freien sitzen ein paar Halbstarke, sie reden Türkisch, spucken viel auf den Boden und erzählen sich, wie cool sie sind. Wenn einer von außen an sie herantritt, tun sich die Burschen schwer. Auf Deutsch wirken sie unsicher, auf Türkisch werden sie ordinär und machen obszöne Handbewegungen. Dann spucken sie wieder auf den Boden. Pubertierende Jugendliche, die um Anerkennung in ihrer Clique kämpfen und sich gegenseitig verbal befetzen: „Ich ficke deine Mutter, ich ficke deine Muschi.“
Das sind die Kids, über die sich die FPÖ echauffiert. Aber die Kritik der Rechtspopulisten greift zu kurz. Diese Burschen sind selbst das, was sie als Schimpfwort sehen: Opfer. Viele hatten schlechte Startbedingungen. Ihre Eltern stammen aus bildungsfernen Schichten, unser Schulsystem sondert die Kinder mit zehn aus. Wer in Deutsch Probleme hat, landet schnell in der Hauptschule. Viele dieser Teenager verstehen Worte wie „Budget“ oder „Schattenseite“ nicht. Sie werden niemals eloquent beim Bewerbungsgespräch auftreten können. Wer Glück hat, macht nach der Hauptschule eine Lehre. Viele sind arbeitslos.
Sprache wäre für die Burschen die große Aufstiegschance. Das inkludiert auch, dass sie ihre Muttersprache beherrschen – egal, ob Türkisch, Bosnisch oder Englisch. Wer seine Muttersprache richtig spricht, lernt leichter Deutsch. Das zeigen linguistische Studien.
Die Sprachforscherin Katharina Brizić hat die Eltern von Wiener Grundschülern mit Migrationshintergrund interviewt und stellte fest: Jene Kinder, die zuhause Deutsch sprechen, sind in der Schule besonders schlecht in Deutsch.
Klingt überraschend, ist aber logisch. Wenn die Eltern zuhause ein fehlerhaftes Deutsch sprechen, lernen die Kinder das falsch. Gleichzeitig geht Sprachpotenzial verloren. Zum Beispiel erzählen Eltern ihren Kindern keine Geschichten mehr, dazu fehlt ihnen das Vokabular in der neuen Sprache. Doch gerade das Märchenerzählen hilft Kindern beim Spracherwerb.
Angesichts solcher Erkenntnisse müsste sich die Integrationspolitik gänzlich neu orientieren. Die Botschaft sollte sein: Türken, lernt Türkisch! Serben, lernt Serbisch!
Des sog i di
Derzeit hängt es vom Zufall und vom Einsatz jedes Einzelnen ab, ob er seine Muttersprache lernt. Die 25-jährige Linda Say hat sich als Jugendliche dazu aufgerafft. Sie begann, selbstständig türkische Bücher zu lesen. „Türkisch und Deutsch sind zwei schöne Sprachen. Man sollte sie richtig sprechen können“, meint Say heute. Sie arbeitet als biomedizinische Analytikerin und schreibt nebenher für das Migrantenmagazin Biber.
Das Türkisch in den Gürtelkäfigen hat nur wenig mit der Schriftsprache der Istanbuler Bildungsbürger zu tun. Vielen jungen Migranten wurde nie die Grammatik ihrer Muttersprache erklärt. Kinder brauchen aber Sprachunterricht. Man stelle sich vor, die österreichische Landjugend, zum Beispiel in der Südsteiermark, würde nicht Schriftdeutsch lernen. Bis zum Schuleintritt können viele Kinder den dritten und vierten Fall nicht unterscheiden. „Des sog i di“, sagen sie in der Klasse. Und der Lehrer bessert sie aus: „Das heißt nicht: ‚Das sag ich dich.‘ Das heißt: ‚Das sag ich dir.‘“
Ähnlich ist das bei den Kindern der Gastarbeiter. Linda Say hat sich selbst die türkische Schriftsprache angeeignet, aber nur wenige haben diese Energie. Oft sind es überdies jene, die ohnehin schon erfolgreich in der Schule strebern. Say ging ins Gymnasium, studiert nun auch Arabisch. Für Biber führt sie Interviews auf Türkisch oder wird für eine Woche auf Recherche nach Istanbul geschickt. Da sieht man den Nutzen der Zweisprachigkeit: Eine Millionenstadt wie Wien bräuchte viel mehr Ärzte, Juristen, Polizisten oder Lehrer, die eine Einwanderersprache beherrschen.
Aber haben Aufsteiger wie Linda Say und Problemfälle wie die Burschen im Jugendzentrum überhaupt etwas gemein? Ja, denn sie alle würden von muttersprachlicher Förderung profitieren. Das erkennen mittlerweile immer mehr Schulen. In der Schopenhauerstraße 79, einer engagierten Hauptschule im 18. Bezirk, wird etwa dreisprachig unterrichtet: Auf Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Türkisch.
„Grčka“ statt „Griechenland“
Freitag, 10 Uhr. In der Geografiestunde präsentieren die Schüler ihre Gruppenarbeit. Zwei Mädchen stehen an der Tafel, sie haben ein Plakat zum Thema Griechenland, genauer gesagt zu „Grčka“, gemalt. Der Text ist Serbisch, Ivana übersetzt ihn für die Klasse ins Deutsche. „Die Fläche ist 130.000 Quadratkilometer, also die Fläche beträgt 130.000 Quadratkilometer“, sagt die 15-Jährige. Man merkt, wie sehr die Jugendlichen mitdenken müssen, um für die anderen Schüler zu dolmetschen. Dadurch lernen sie aber kompliziertere Begriffe wie „Nachbarstaat“ oder „angrenzend“ in ihrer Muttersprache – und auf Deutsch.
Die 4B der Schopenhauerstraße ist eine jener Klassen, über die Politiker reden: Nur ein Schüler spricht zuhause Deutsch. Der Rest verwendet eine Sprache des ehemaligen Jugoslawiens, Türkisch, Ungarisch, Rumänisch, Farsi oder Urdu Pandschabi. Mit dem dreisprachigen Projekt sollen die Kinder ihren Wortschatz erweitern.
Viele Schulen hätten gute Ideen, es fehlt aber an flächendeckenden Angeboten, an muttersprachlichen Lehrern und Pädagogen, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten können. Und nicht jeder heißt die mehrsprachigen Schulprojekte gut. Die Kronen Zeitung schrieb vergangene Woche: „Aufregung herrscht an der Kooperativen Mittelschule in der Leibnizgasse in Favoriten. In einer ersten Klasse werden die Angaben für die Mathematik-Hausübung in Deutsch, Türkisch und Serbokroatisch verfasst. Zwar haben 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund, doch die Aufgaben sind als kinderleicht zu bewerten.“
Das Schulsystem spiegelt die gesellschaftliche Anerkennung einzelner Sprachen wider. Während man an fast jedem Gymnasium in Italienisch oder Französisch, manchmal sogar in Altgriechisch maturieren kann, gibt es noch immer kein türkisches Lehramtsstudium. Dabei kommt die Stadtbevölkerung viel häufiger mit Türkisch in Kontakt, marschiert viel öfter über den Brunnenmarkt als über die Akropolis.
Ivana, das serbischsprachige Mädchen aus der 4B, steht noch immer an der Tafel und führt ihre Präsentation fort. „Griechenland ist in EU seit 1981“, sagt sie. Solche Artikel und Satzstellungsfehler passieren der Schülerin manchmal, sie kam vor sechs Jahren nach Österreich. Oft täuschen solche sprachlichen Schnitzer darüber hinweg, dass es sich um intelligente Kinder handelt. Im Gespräch sagt Ivana gescheite Sätze wie: „Hier geht es uns besser. In Serbien hatten wir keine Perspektive.“
Volim te über alles
Die neue Sprache der Migrantenkinder entsteht teils durch fehlende Sprachkompetenz, teils ist sie auch selbstgewählt. „Mit den Lehrern tue ich auf brav“, sagt Ivana, „aber mit Freunden rede ich ein schmutziges Deutsch.“ Wenn sie chattet, missachtet sie jegliche Rechtschreibregeln. „Nichts“ wird zu „niks“, „jetzt“ wird „jez“, aus „Freunde“ plötzlich „frojnde“. Das schaut für deutsche Muttersprachler komisch aus, für slawischsprachige Kinder wirken diese Formulierungen stimmig. Gewissermaßen deuten sie die deutsche Rechtschreibung für sich um – oder, wie die Soziolinguistin İnci Dirim sagt: „Sie eignen sich die Sprache der Mehrheit an.“
Das Ergebnis klingt manchmal ziemlich unterhaltsam. „Du bist Bombe!“, sagen die Teenager. „Heast, Wixa, was ist mit du?“, grüßen sie sich. Und wenn Ivana ihrer besten Freundin im Chat gute Nacht sagt, schreibt sie: „VTÜA“. Kurz für: „Volim te über alles.“ Ich liebe dich über alles.
Bilinguale Menschen hupfen häufig zwischen den Sprachen hin und her. Ein Satz beginnt in der Muttersprache und endet auf Deutsch. Wenn das französische Diplomatenkind so etwas macht, finden das alle charmant. Wenn der türkische Migrant das tut, wird es fast schon als Anschlag auf den ganzen deutschsprachigen Kulturkreis gedeutet. Dabei sind solche neuen Mischformen ganz normal, Linguisten sprechen von „Code-Switching“. Der Dialekt der ethnischen Minderheit heißt „Ethnolekt“. Jiddisch ist das bekannteste Beispiel dafür, es ist eine Mischung aus Mittelhochdeutsch, Slawisch und Hebräisch. „Ethnolektale Entwicklungen zeigen, dass Menschen mit Sprache arbeiten. Ich sehe das eher als Zeichen von Integration“, sagt Dirim, die eine Professur am Wiener Institut für Germanistik innehat. Gleichzeitig sei die Schule gefordert: Sie muss darauf achten, dass Kinder die Schriftsprache lernen.
Manche Länder haben einen offeneren Umgang mit Zweisprachigkeit. In Kanada ist es normal, wenn Kinder im Unterricht eine Frage auf Arabisch stellen – selbst wenn der Lehrer kein Arabisch spricht. Dann übersetzt die Klasse gemeinsam die Frage. „Interkulturelles Lernen“ nennen das Pädagogen, die Kinder bekommen dabei Selbstvertrauen in die eigene Sprache.
Selbstvertrauen wird nämlich unterschätzt. Wenn Kinder einen selbstsicheren Umgang mit ihrer Muttersprache haben, lernen sie besser Deutsch. Das zeigte eine Studie der Uni Wien. Dabei wurden türkische Kinder in ihrer Muttersprache individuell betreut und ihre Selbstsicherheit beim Türkischreden gefördert. In der Folge erzielten sie bessere Leistungen – auch in Deutsch.
Sprache als Kampfplatz
Doch gerade das Selbstvertrauen wird von Rechtsparteien attackiert. Die FPÖ will Migrantenkindern sogar verbieten, in der Pause ihre Muttersprache zu sprechen. Neu sind solche Kulturkämpfe nicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand in französischen Schulhöfen der Hinweis: „Es ist verboten, auf den Boden zu spucken und Bretonisch zu sprechen.“
Manche sehen Sprache noch immer als kulturelle Arena, in der sich nur eine Nation, ein Volk durchsetzen kann. Realistisch betrachtet nützen solche Kampfansagen aber nichts. Die Burschen, die vor dem Jugendzentrum sitzen und wenig Zukunftschancen haben, werden nicht plötzlich brillant Deutsch parlieren – bloß weil sie am Tag ein paar Minuten mehr mit Deutsch konfrontiert sind. Die TKP-Gang wird nicht plötzlich die Sprache ihrer Eltern ablegen, das würde ja eine Entfremdung von der Familie bedeuten. Gleichzeitig wird die Gesellschaft diese Kinder aber auch nicht los. Ob du’s glaubst oder nicht, Oida.
Das obige Bild zeigt die Jungs von der TKP-Gang. Sultan, Muhammed, Imran und Talha sind zwischen 14 und 16 Jahre alt. Sie haben haben indische, türkische und tschetschenische Wurzeln. Dieser Artikel ist die Cover-Geschichte des Falter 18/10. Credit: Katharina Gossow