Sie träumten vom goldenen Westen, nun werden sie mitten in der EU ausgebeutet. In Tschechien schuften Vietnamesen und Ukrainer für einen Hungerlohn
Drei Euro und 60 Cent. Dafür steht Nguyen Thu Nhan* jeden Morgen um fünf Uhr auf, um sechs Uhr früh ist sie in der Fabrik. Für 3,60 Euro in der Stunde arbeitet sie, mindestens 200 Stunden pro Monat, wenn möglich 250 Stunden. Frau Nguyen schuftet aber nicht in einem asiatischen Sweatshop, sondern 200 Kilometer von der österreichischen Grenzen entfernt, in der tschechischen Stadt Pilsen. Hier werden Fernseher hergestellt. „Ich habe eine verantwortungsvolle Aufgabe, deswegen darf ich sitzen“, sagt die 22-jährige Vietnamesin. Viele ihrer Kollegen müssen am Fließband stehen. Sie aber sitzt, Stunde für Stunde bringt sie Aufkleber an den Bildschirmen an, Fernseher des taiwanesischen Herstellers Tatung.
Die Asiatin reißt sich um Überstunden, kauft für sich selbst nur das Nötigste an Lebensmitteln und Kleidung. „Ich habe Schulden. Es hat mich sehr viel gekostet, hierher zu kommen“, sagt die junge Frau, sie ist spindeldürr, ihr Blick ernst. Sie hat einer Arbeitsagentur 10.000 Dollar bezahlt, um ein Visum zu bekommen, um nach Europa reisen und in Tschechien arbeiten zu können. Seither sitzt sie am Fließband und spart jede tschechische Krone, um endlich schuldenfrei zu sein – frei von dem Kredit, den ihre Familie auf sich nahm. So hat sie sich Europa nicht vorgestellt.
Sie ist kein Einzelfall, sondern steht stellvertretend für eine Gruppe neuer Lohnsklaven, die mitten in der EU schuften. Vom Schicksal dieser Gastarbeiter ist wenig bekannt. In Österreich wird viel über Billigarbeitskräfte aus Osteuropa diskutiert. Ab Mai 2011 dürfen Tschechen, Polen, Ungarn, Slowaken, Esten, Letten, Litauer und Slowenen hierzulande arbeiten. Doch der europäische Arbeitsmarkt ist längst viel globalisierter geworden, die Migration findet nicht nur von Ost- nach Westeuropa statt. Die ehemaligen Ostblockstaaten werden selbst zu Einwanderungsländern – allen voran Tschechien. Für viele Mongolen, Vietnamesen und Ukrainer scheint unser Nachbarland der „goldene Westen“ zu sein. In der Realität kommt es zu Integrationsproblemen und zu Ausbeutung. Obwohl Tschechien seit 2004 der EU angehört, haben die Arbeitsbedingungen nichts mit europäischen Standards zu tun.
Einwanderer gab es in Tschechien natürlich schon vor dem EU-Beitritt. Während des Kommunismus kamen die ersten Asiaten ins Land, die „sozialistischen Bruderstaaten“ Vietnam und Tschechoslowakei pflegten gute Kontakte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion arbeiteten viele Ukrainer auf Prager Baustellen. Nach dem EU-Beitritt stieg der Zuzug aber immens: Der Anteil der Ausländer hat sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt, von 2,1 Prozent im Jahr 2005 auf 4,2 Prozent im Jahr 2009, verlauten die Zahlen des Forschungsinstituts Rilsa. Das mag wenig sein im Vergleich zu Österreich, wo jeder Zehnte ein Einwanderer ist. Aber die Tschechen holen auf. Das liegt vor allem an der Wirtschaft. Vor der Krise wuchs das Bruttoinlandsprodukt jährlich um cirka sechs Prozent, Tschechien hat eine extrem starke Industrie. In Städten wie Pilsen siedelten sich internationale Konzerne an, darunter Panasonic, Foxconn oder Volkswagen. Mit dem Wirtschaftswachstum stiegen die Löhne für die inländischen Arbeitnehmer. Daraufhin stellten die Fabriken jene an, die auch unter dem Durchschnittslohn arbeiten: Ausländer wie Frau Nguyen.
Anfangs schien das eine Win-win-Situation zu sein. Die Firmen konnten billig produzieren, die Migranten verdienten schlechter als tschechische Fabriksarbeiter, aber immer noch besser als in ihrer Heimat. Dann kam die Wirtschaftskrise. Als Erste verloren die Ausländer ihren Job.
Ein schlechtes Timing hatte auch Nguyen. 2008 kam sie ins Land, 2009 folgte die Krise. „Ich habe Glück, ich habe noch Arbeit“, sagt sie. Aber auch für sie ist es härter geworden. Zuerst gab es eine Gehaltskürzung, dann musste sie sich als Selbstständige anmelden. Offiziell ist die Vietnamesin Alleinunternehmerin, von den 720 Euro pro Monat muss sie selbst die Sozialversicherung und ihren Kredit zahlen.
Sie sitzt in ihrem rosa Freizeitgewand im Wohnheim. In einem heruntergekommenen Haus sind vietnamesische Arbeiter untergebracht, sie schlafen zu zweit in einem Zimmer, statt Betten gibt es Schlafsofas, an den Wänden hängen Fotos aus der Heimat. Die Gemeinschaftsküche ist abgenützt und dreckig. Hier lebt man nicht, hier haust man. Die Zustände sind den Asiaten unangenehm, aber ihnen fehlt das Geld, um ihre Situation zu verbessern. Wie Nguyen Thu Nhan haben viele Schulden.
Die Vietnamesen werden von ihren eigenen Landsleuten ausgebeutet. Nguyen fiel auf ein Zeitungsinserat herein, das von den tschechischen Arbeitsbedingungen schwärmte. In Vietnam gibt es ein regelrechtes Migrationsbusiness. Für mehrere tausend Dollar organisieren Agenturen ein Visum, die Ausreise und einen Job in Tschechien. Wenn die Migranten dann im Ausland ankommen, sind sie von den Agenturen komplett abhängig: Sie sprechen weder Tschechisch noch kennen sie die Rechtslage oder irgendjemanden, der ihnen bei Problemen mit den Agenturen helfen könnte. Für Menschen wie Nguyen besteht der Alltag nur aus Arbeit in der Fabrik und ein bisschen Freizeit im Wohnheim. Obwohl sie mitten in Tschechien lebt, ist sie von der tschechischen Gesellschaft isoliert.
„Im Grunde ist das Sklavenarbeit“, sagt Gudrun Biffl, Migrationsforscherin der Donau-Universität Krems. Auf dem Papier mögen die Verträge legal aussehen, de facto wird das tschechische Arbeitsrecht ausgehöhlt, die staatliche Kontrolle fehlt und die Gewerkschaften sind für die Migranten nicht zuständig. Letztlich sei das auch für den Nachbarstaat Österreich bedenklich, meint Biffl: „Bei der Produktion von Gütern stehen wir in einem Wettbewerb. Diese Arbeitsbedingungen sind in keiner Weise mit westlichen Standards vereinbar. Natürlich ist die Produktion dort billiger.“
Die Vietnamesen sind nicht die einzige ausgebeutete Migrantengruppe. Auch Ukrainer kommen mit schwindeligen Agenturen ins Land, die ihnen horrende Summen abknöpfen. „Diese Agenturen sind wie die Mafia“, sagt Ruslan Rymbaluk, ein ukrainischer Hilfsarbeiter. Warum er trotzdem hier bleibt? Zu Hause hat er als Verkäufer 200 Euro pro Monat verdient, da sind selbst schlechte Jobs hier besser bezahlt. Jetzt hat der 39-Jährige noch eine Familie zu ernähren, er lernte seine Frau in einer Fleischfabrik kennen, ihr Baby ist ein paar Monate alt. „Bevor die Situation zu Hause nicht besser wird, gehen wir nicht heim“, sagt er.
Erst langsam entwickelt sich eine Debatte rund um Integration. „Das Erste, was sich verbessern muss, sind die Sprachkenntnisse“, sagt zum Beispiel die 21-jährige Do Thu Trang, selbst Kind von Einwanderern. Aber meist dreht sich die Debatte – ähnlich wie in Österreich – um Migranten, die den Tschechen angeblich Jobs wegnehmen oder den Staat Geld kosten würden.
Do Thu Trang ist ein Beispiel für gelungene Integration. An der Prager Uni belegt sie deutsch-tschechische Studien, sie spricht Vietnamesisch, Deutsch und Englisch fließend, am besten kann sie Tschechisch. „Vielleicht werde ich eines Tages einen Tschechen heiraten“, meint sie, „oder nach Deutschland arbeiten gehen.“ Eine Rückkehr in die vermeintliche Heimat kann sie sich nicht vorstellen. So geht es vielen aus ihrer Generation. „Man nennt uns Bananenkinder“, sagt Do Thu Trang. Außen gelb, innen weiß, scherzen die Tschechen. Sie findet das nicht rassistisch, da sei etwas Wahres dran: Sie ist im Westen aufgewachsen, aber laut Reisepass Vietnamesin.
Zwischen der Studentin Do Thu Trang und der Gastarbeiterin Nguyen Thu Nhan liegen Welten. Ihr Beispiel zeigt aber, wie sehr sich Europa und die ehemaligen Ostblockstaaten weiterentwickelt haben. In Tschechien gibt es mittlerweile mehr Einwanderer als Auswanderer. Die Menschen kommen mit der Hoffnung, vom neuen Reichtum profitieren zu dürfen. Eine Hoffnung, die sich aber nicht immer erfüllt.
Das trifft auch auf Nguyen zu, die in ihrem rosaroten Gewand im Arbeiterheim sitzt. Es wird gerade dunkel, die 22-Jährige wird bald schlafen gehen, sie muss morgen wieder früh aus dem Bett. Wovon sie träumt? Jedenfalls nicht von Europa. „Ich habe nicht den Traum, hier zu bleiben“, meint sie, „ich will nur meine Schulden zahlen und nach Hause.“
* Name von der Redaktion geändert
Foto 1: Nguyen Thu Nhan (rechts) im Wohnheim. Die Vietnamesen schlafen zu zweit im Zimmer, teilen sich eine Küche. Der Gemeinschaftsraum mit Bar ist etwas schicker eingerichtet
Foto 2: Die Studentin Do Thu Trang. Sie sagt: Man nennt uns Bananenkinder.
Zu diesem Thema wurde Eurotours 2010 gestartet: 26 heimische Jungjournalisten recherchieren in 26 EU-Ländern. Für den Falter fuhr ich nach Tschechien. Eurotours ist ein Projekt der Europapartnerschaft zwischen EU-Kommission, Europäischem Parlament und Republik Österreich. Infos unter www.facebook.com/eurotours2010
Diese Reportage ist im Falter (Ausgabe 37/10) erschienen