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Ferenc holt seine Freunde

Herein zum 1. Mai! Nächste Woche kommt die große Arbeitsmarktöffnung. Viele Osteuropäer bereiten sich derzeit aufs Auswandern vor

Der junge Mann zuckt mit den Schultern. Warum er hier weg will? “Natürlich fürs Geld“, sagt Norbert Nógrádi, 26. Er steht am Hauptplatz in Jánossomorja. Das Städtchen in Ungarn ist heruntergekommen. Die Straßen haben Schlaglöcher, viele Wohnhäuser wurden offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen. Jugendliche sitzen gelangweilt herum und schauen vorbeifahrenden Autos zu, die den Schlaglöchern ausweichen.

Das Herz zieht einen nach Ungarn. Aber ich sehe hier keine Zukunft.
Nógrádi sagt: “Das Herz zieht einen nach Ungarn. Aber ich sehe hier keine Zukunft.“ Der gelernte Schlosser und Schweißer verdient im Monat 90.000 Forint, rund 350 Euro. Zehn Kilometer entfernt liegt eine andere Welt. “Ich will nach Österreich gehen, ich glaube, dort kann ich das Doppelte oder Dreifache verdienen“, sagt er.
Das ist nicht bloß ein vager Plan. In seiner Freizeit lernt Nógrádi Deutsch, durchstöbert österreichische Stellenangebote und hat bereits Betriebe kontaktiert. “Bisher hieß es immer: ‚Hast du Papiere?‘ Aber ab 1. Mai brauche ich keine Papiere mehr“, sagt der Facharbeiter. Dann fällt die letzte Hürde, dann kommt die Öffnung des österreichischen Arbeitsmarkts. Menschen wie Nógrádi aus Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen und der Slowakei dürfen hierzulande ohne jegliche Einschränkung arbeiten. Rumänen und Bulgaren werden 2014 folgen.

Das AMS erwartet 15.000 bis 25.000 Arbeitskräfte, doch vom Wifo bis zur Donau-Universität Krems beruhigen die Experten: Für eine Volkswirtschaft wie Österreich sei das verkraftbar, andere EU-Staaten haben längst ihren Arbeitsmarkt zur Gänze geöffnet und kommen zurecht. Wohl aber wird am Billiglohnsektor die Konkurrenz steigen.

Angst um den Arbeitsplatz

Diese Sorge spürt man auch entlang der burgenländischen Grenze. Das Bundesland ist von der neuen Freizügigkeit ganz besonders betroffen. An Tankstellen, Hotelbars und am Bau arbeiten längst Ungarn. Bald sollen es noch mehr werden. Nicht nur manchen Einheimischen, auch vielen Gastarbeitern behagt das nicht so recht. “Natürlich haben wir alle Angst um unseren Arbeitsplatz“, sagt Zsófia Kiss, “allerdings wird das kaum einer ehrlich zugeben.“

Die Frau in ihren 20ern sitzt in einem unauffälligen Bürogebäude in Neusiedl am See. Hier führt die Gewerkschaft eine Rechtsberatung auf Ungarisch durch, “Jogi Tanácsadás“ heißt das, und Kiss kann in ihrer Muttersprache von den Problemen im Betrieb erzählen. Zwischendurch fallen deutsche Wörter wie “Überstunden“, “Ausländer“, “Schichtarbeit“.

Die Leute arbeiten bis zum Umfallen. Die Überstunden werden aber niemals ausbezahlt
Kiss spricht sehr offen, weil sie weiß, dass ihr richtiger Name anonym bleibt. Seit drei Jahren arbeitet sie im Burgenland, sie wohnt ein paar Kilometer hinter der österreichischen Grenze und pendelt jeden Morgen in die Fabrik. “Die Leute arbeiten bis zum Umfallen. Die Überstunden werden aber immer mitgeschleppt und niemals ausbezahlt“, sagt sie. Fünf Tage die Woche arbeitet sie zehn Stunden, manchmal auch am Samstag. Nun ist sie schwanger und macht sich Sorgen. “In der Arbeit hantiere ich auch mit giftigen Materialien. Ich habe mich gefragt, ob ich früher in Mutterschutz gehen kann.“

 
Ja, kann sie. In Österreich gilt das österreichische Arbeitsrecht, egal, ob man ein eingeborener oder eingewanderter Arbeiter ist. Mit 1. Mai wird die Kontrolle der heimischen Arbeitsbedingungen umso wichtiger. Die Regierung hat ein eigenes “Anti-Sozialdumping-Gesetz“ erlassen. Unterschreitungen von Mindest- und Kollektivvertragslöhnen werden nun härter bestraft. Arbeitsinspektorat, Finanzministerium und Gebietskrankenkasse sollen enger zusammenarbeiten. Im Burgenland ist die Gewerkschaft äußerst engagiert. Seit 2004 gibt es das Projekt “IGR – Zukunft Im GrenzRaum“ und die Rechtsberatung. “Am besten ist es, viele Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Menschen sollen wissen, welche Rechte und welche Mindestlöhne es in Österreich gibt. Wir versuchen damit, dem Sozialdumping vorzubeugen“, sagt Projektleiterin Eszter Tóth, selbst geborene Ungarin.

Auf dem Gang warten noch weitere Arbeiter, Zsófia Kiss ist exemplarisch für viele von ihnen. Sie hat in Ungarn eine Lehre als Kauffrau gemacht. In Österreich verdient sie nun als simple Hilfskraft mindestens das Doppelte. Menschen wie sie haben derzeit Angst: Für ihren Job braucht man keine großen Vorkenntnisse, sie sind leicht ersetzbar. In Ostungarn, das noch ärmer als der Westen ist, spitzen viele Menschen auf ihre Stelle. 1200 Euro pro Monat sind in Ungarn sehr viel Geld.

Bei der Gewerkschaft treffen täglich E-Mails von verzweifelten Menschen ein. Eine Fabriksarbeiterin aus dem Komitat Nógrád, das weiter im Osten liegt, will mit Kollegen nach Österreich kommen: “Wir bekommen sehr wenig Gehalt. 50.000 Forint ist ein Monatslohn, obwohl wir in einem harten Schichtbetrieb arbeiten“, schreibt sie und bittet um Hilfe.

Die viel größere Gefahr

Seit 2004 sind die Ungarn, Polen, Tschechen, Slowenen, Balten und Slowaken bei der EU. Staaten wie Polen und Tschechien haben wirtschaftlich immens aufgeholt, doch über Ungarn ist die Krise hereingebrochen: Der Staat ist verschuldet, der Forint entwertet, viele Menschen haben Fremdwährungskredite und können diese nicht mehr zurückzahlen.

In der öden Kleinstadt Jánossomorja schaut es aus, als sei Ungarn niemals der EU beigetreten
Die schlechte wirtschaftliche Situation drängt die Leute regelrecht ins Ausland. Das sieht man auch in der öden Kleinstadt Jánossomorja. Hier schaut es aus, als sei Ungarn niemals der EU beigetreten. Zwei Mädchen sitzen auf einem Bankerl. Sie tragen Stretchjeans und viel Schminke. Die eine ist 17 und macht eine Lehre als Frisörin, die andere ist 16 und will Hotelfachkraft werden. “Ich weiß nicht, vielleicht wandern wir später ebenfalls aus“, sagt die eine, “ein paar Klassenkollegen haben das vor. Sie würden gerne nach Österreich gehen und ein Geschäft eröffnen.“

 
Auch das ist ab Mai erlaubt: Dann darf man in Ungarn eine Firma gründen, dort niedrige Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, aber in Österreich seine Dienste anbieten. “Dienstleistungsfreiheit“ heißt das in der Fachsprache. Womöglich ist diese Dienstleistungsfreiheit eine weitaus größere Gefahr als die klassische Arbeitsmigration. Der herkömmliche Gastarbeiter heuert bei einer österreichischen Firma an, von seinem Lohn fließt ein großer Teil ins österreichische Sozialsystem. “Gesamtgesellschaftlich gesehen kann die Dienstleistungsfreiheit problematisch werden“, sagt Gudrun Biffl, Migrationsforscherin der Donau-Universität Krems und eine Globalisierungsexpertin, “zum Beispiel wenn große Firmen das vermehrt nutzen und von Györ aus Leiharbeiter nach Österreich schicken.“ Diese Betriebe hätten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber heimischen Unternehmen, die höhere Steuern und höhere Löhne zahlen. Der Staat kann ihre Machenschaften nur schwer überwachen. Nicht jedem polnischen Anstreicher kann man einen Mitarbeiter des Arbeitsinspektorats an die Seite stellen.

Wachsender Andrang am Billigsektor, mehr Wettbewerb durch ausländische Firmen. Natürlich existieren in einem durchlässigen europäischen Wirtschaftsraum solche Risiken. Gleichzeitig gibt es gute Argumente für eine Marktöffnung: Mittelfristig sollen alle EU-Länder vom Wohlstand gleichermaßen profitieren. Längst sind heimische Betriebe auf ausländische Facharbeiter angewiesen. Nun wird es noch leichter, sie ins Land zu holen.

Die Einwanderer haben hohe Erwartungen. Jene, die schon länger in Österreich arbeiten, sind allerdings skeptisch.

Ferenc Tóth ist einer davon. Der Ungar steht auf einer Baustelle in Neusiedl und trägt einen gelben Sicherheitshelm. Ein Lastwagen liefert eine Ladung Erde ab, im Hintergrund läuft eine Kreissäge, aus der Ferne hört man Radio Burgenland. Tóth ist 49 Jahre alt und schon seit 1990 in Österreich. “Für die, die nachkommen, wird es schwieriger sein“, sagt er, “vor allem, wenn sie keine Deutschkenntnisse haben.“

Der Ungar spricht selbst ein gebrochenes Deutsch, aber es reicht für die Baustelle aus. Ferenc Tóth war einst Feuerwehrmann in Ungarn, heute ist er ein typischer Wochenendpendler. Wenn er frei hat, ist er zu Hause in Westungarn. An Werktagen schläft er aber in der Marktgemeinde Jois, acht Arbeiter wohnen dort gemeinsam in einem Haus, Österreicher, Slowenen und Ungarn teilen sich ein Dach und ihre Freizeit. Der 1. Mai ist bei ihnen ein großes Thema. “Ich kenne mehrere Kollegen, die in Zukunft einen Freund mitbringen wollen“, erzählt der Bauarbeiter. Er selbst hat ebenfalls einen Kumpel im Schlepptau. Er will einem befreundeten Feuerwehrmann einen Job auf der Baustelle vermitteln. Der Mann hat zu Hause eine Familie, ein kleines Kind und braucht das Geld.

Norbert Nógrádi

Eine Zukunft jenseits der Grenze

Migration, Pendler, Familiennachzug. Das ist in Pannonien eigentlich nichts Neues. Links von der Grenze heißen die Menschen Horvath, Kiss, Toth, rechts von der Grenze heißen die Menschen Horváth, Kiss, Tóth. Nur die politischen Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass die einen reicher und die anderen ärmer sind. Gemäß der Vision des vereinten Europa sollen diese zwei Hälften enger zusammenwachsen – und auch den Reichtum stärker teilen.

Im Burgenland zeigen sich schon jetzt potenzielle Gefahren der neuen Freizügigkeit, aber auch, warum so viele Osteuropäer auf den 1. Mai hoffen.

Wie sein Leben in fünf Jahren ausschaut? Was er sich wünscht? Da zuckt der ausreisewillige Schweißer und Schlosser Norbert Nógrádi wieder mit den Schultern. Er steht noch immer am Hauptplatz in Jánossomorja und sagt: “Vielleicht werde ich zuerst pendeln und ein bisschen Geld sparen.“ Einen großen Traum hat er nicht – zumindest keinen, den er verraten will. Er will nur dorthin, wo er eine Zukunft sieht. Und das ist jenseits der Grenze.

 

 

Diese Reportage ist im Falter 17/11 erschienen. Die Fotos habe ich entlang der ungarisch-burgenländischen Grenze gemacht. Das obere Bild zeigt Ferenc Tóth

 

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Ingrid Brodnig: