Österreichs Schulsystem trichtert Schülern zu viel Wissen ein. Der Lehrplan muss grundlegend umgedacht werden
Die österreichische Schule ist ein Relikt vergangener Tage. Sie stammt aus einer Zeit, als die Habsburger noch über ein Weltreich herrschten, als Lehrer zuallererst Autoritätsfiguren und erst ganz am Schluss Pädagogen waren und als Kinder Unmengen auswendig lernen mussten – ohne recht zu wissen, wofür.
“Es war ein stumpfes, ödes Lernen nicht um des Lebens willen, sondern um des Lernens willen, das uns die alte Pädagogik aufzwang. Und der einzige wirklich beschwingte Glücksmoment, den ich der Schule zu danken habe, wurde der Tag, da ich ihre Tür für immer hinter mir zuschlug.“ Das schrieb Stefan Zweig in seiner Autobiografie “Die Welt von gestern“. Er maturierte im Jahr 1899.
Zweigs Erkenntnis hat auch heute noch Gültigkeit. Ja, es hat sich im letzten Jahrhundert viel getan. Kinder müssen nicht mehr Schillers “Glocke“ auswendig lernen oder im militärisch organisierten Turnunterricht schwere Medizinbälle schupfen.
Aber sie werden in ein enges Korsett vorgegebener Fächer gezwungen. Ein 15-jähriger Gymnasiast verbringt 31 Stunden pro Woche im Unterricht. Wenn er nachmittags heimkommt, muss er die Hausaufgaben machen und für Tests strebern. Es ist ein Fulltime-Job. Gerade zur Prüfungszeit bleibt eine 40-Stunden-Woche, Forderung der Gewerkschaften des vergangenen Jahrhunderts, für Schüler Illusion. Jeder zweite AHS-Schüler fühlt sich auch chronisch belastet. Zumindest gaben das die 15- und 16-Jährigen bei der Pisa-Studie an.
Ist dieser Stress noch gesund? Das fragen sich auch die Eltern. In Deutschland wird derzeit diskutiert, ob die Kinder mit all dem Stoff nicht überfordert werden. Die Hamburger Zeit widmete einem Vater, der die Überlastung seiner Tochter in der Schule beklagt, ein ganzes Dossier. In der Süddeutschen wurde der Alltag sadistischer oder inkompetenter Mathematiklehrer beschrieben.
In Österreich lieferten einander SPÖ und ÖVP unlängst einen Streit über die Sinnhaftigkeit des Lateinunterrichts. Da zweifelte Wiens Bürgermeister Michael Häupl an, ob der Lateinunterricht überhaupt noch zeitgemäß sei. Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle antwortete sogleich: Erst Latein mache aus jungen Menschen Bildungsbürger.
Ist das so? Lernen unsere Kinder noch das Richtige?
Genug gerechnet!
Jeder kann sich an seine eigene Schulzeit erinnern: Mathematik, das war Angst und an der Tafel rechnen, Formeln pauken und durchfallen. Noch immer rechnen Lehrer an der Tafel vor. Oft genug geht es dabei nicht ums Verständnis, sondern ums Auswendiglernen der ewiggleichen Rechenschritte. Binomial, Differenzial, Integral? Die Matura ist das scheinbar einzige Ziel, danach dürfen die Schüler ihr Wissen auch schon wieder vergessen.
Darüber schütteln sogar namhafte Mathematiker den Kopf. “Irgendwann ist genug gerechnet“, sagt Roland Fischer, Professor für mathematische Allgemeinbildung an der Universität Klagenfurt. Er plädiert dafür, den mathematischen Stoff zu reduzieren und mehr auf Verständnis und Anwendbarkeit zu setzen. “In der Praxis ist es wichtiger, eine Tabelle oder Statistik richtig lesen zu können.“
Einen solchen Mathe-Unterricht gibt es bereits in Kanada. Dort ist der Stoff leichter und auf das Wesentliche reduziert. “Natürlich haben die Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit weniger gelernt. Aber gleichzeitig haben sie weniger Angst vor dem Fach“, sagt Rudolf Krska, Leiter des Analytikzentrums in Tulln und ein international angesehener Chemiker. Krska ist Vater, er hat im Ausland geforscht und seine Töchter dort auf englische und kanadische Schulen geschickt. “Mir hat das kanadische System am besten gefallen“, sagt er, “es ist unsinnig, dauernd einen Stress für Inhalte zu machen, die die Mehrheit der Menschen nach der Matura nicht mehr braucht.“
Ein radikaler Umbau
Wenn man Mathematik reduziert, könnte man andere Gegenstände ausbauen. Zum Beispiel die Informatik. Der Nutzen dieses Fachs ist in Zeiten medialen Umbruchs offensichtlich. Trotzdem werden der Informatik in der AHS-Oberstufe lediglich zwei Stunden eingeräumt: In der 5. Klasse AHS gibt es das Fach als Pflichtgegenstand, dann nicht mehr. Die Mathematik bekommt hingegen zwölf Stunden in der Oberstufe, Religion acht, Physik sieben, Chemie vier.
Die Proportionen stimmen nicht, meint Roland Fischer. “Seit hundert Jahren haben wir im österreichischen Schulsystem im Grunde die gleichen Fächer. Da könnte man einmal radikal fragen: Ist das noch zeitgemäß?“, sagt der Mathematikprofessor. Er ist einer der wenigen in Österreich, der über eine neue Schulordnung, das Zusammenlegen von Fächern und neue Inhalte nachdenkt. Ihm schwebt ein radikaler Umbau vor. “Zum Beispiel gehören die Sozialwissenschaften aufgewertet“, sagt Fischer. Er wünscht sich ein großes Fach namens “Sozialwissenschaften“, das Geografie, Geschichte, Psychologie, aber auch Teile von Jus und Sozialkunde vereint.
Zu viele Einzelkämpfer
Umdenker wie Fischer haben ein grundlegendes Problem: den Tunnelblick der Lehrer. Vor allem am Gymnasium sind die Pädagogen oft Einzelkämpfer, jeder hält sein Fach für das wichtigste, es darf bloß keine Stundenkürzung geben, sonst folgt eine Generation von Idioten. Im Jahr 2003 strich Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) zwei Unterrichtsstunden, die Lehrer liefen heiß, sprachen von einem “Bildungsabbau“.
Noch heute jammern die Gymnasialprofessoren, dass viel zu wenig Zeit für all die wichtigen Inhalte bleibe. Nein, die Zeit ist nicht zu kurz, die Schüler sind auch nicht zu dumm oder zu faul, sondern die Information ist zu viel geworden. “Das Wissen, über das die Menschheit verfügt, steigt unentwegt“, sagt Bildungsforscherin Christa Koenne, “jetzt geht es darum, den Schülern einen Überblick zu geben.“
Viele Lehrer sind allerdings erst glücklich, wenn sie all den Stoff abgearbeitet haben: “Was davon bei den Kindern hängenbleibt, fragen sie viel zu selten“, meint Koenne. Für ihren Bereich, die Naturwissenschaften, hätte sie einen Reformvorschlag: Biologie, Chemie und Physik gehören in der Unterstufe zusammengelegt.
Andere Länder haben schon ein solches Fach namens “Naturwissenschaft“. Dort soll Interesse für naturwissenschaftliches Forschen und ein Grundverständnis hierfür entstehen. In Österreich bekommen die Kinder die Welt in kleinen, scheinbar unzusammenhängenden Häppchen erklärt: Dienstags geht es um Gravitation in Physik, freitagmittags um Zellteilung in Biologie. Wie das alles zusammenpasst, bleibt schleierhaft. “Wir überfordern die Kinder, statt für Verständnis zu sorgen“, klagt Koenne.
Alles entrümpeln, auch Latein!
Jedes einzelne Fach gehört entrümpelt, überall die Frage gestellt, cui bono? Wem nützt’s? Auch im Lateinunterricht.
Latein ist besonders umstritten. Nicht nur Michael Häupl fragt sich, ob der Gegenstand noch “zum Repertoire ausgebildeter junger Menschen“ gehört. Dem Fach wird ein ungeheurer Wert im heimischen Schulsystem beigemessen. Im Oberstufengymnasium haben die Jugendlichen jede Woche drei Stunden Latein, insgesamt belegen mehr als 70.000 Schüler den Gegenstand. Sehr viel Zeit und sehr viele Ressourcen fließen in die tote Sprache.
“Es gibt die Idee, dass Latein das logische Denkvermögen fördert. Das muss man verneinen“, sagt Klaus Kubinger vom Psychologieinstitut der Uni Wien. Sein Institut untersuchte, ob Kinder nach zwei Jahren Lateinunterricht bei Intelligenztests besser abschnitten – Fehlanzeige.
Das herkömmliche Gymnasium klammert sich trotzdem an diese Sprache. Wer heute eine AHS besuchen will und die Mathematik fürchtet, der muss zumindest ein paar Jahre Latein büffeln. Entweder man geht in den Realzweig mit viel Mathe und Darstellender Geometrie oder man lernt Deklinieren und Konjugieren. “Der Zwang zu Latein ist wirklich überholt“, sagt Heidi Schrodt, ehemalige Direktorin der AHS Rahlgasse. “Latein kann allerdings sinnvoll sein, wenn es ein Kulturfach ist.“
Latein als Kulturfach? Dabei geht es nicht ums stupide Vokabelpauken, um das Lernen um des Lernen willens, wie es Stefan Zweig ausdrückte. Da werden lateinische Texte zu einer Exkursion in die Geschichte, hin zu den Wurzeln unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich der Lateinunterricht in vielen Schulen gewandelt. Das Fach geriet unter Druck, die Pädagogen mussten seine Existenz rechtfertigen. Tempora mutantur, die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Anforderungen an die Schule.
Kreativität fördern
In einer komplexen Wissensgesellschaft geht es um Grundkompetenzen. Mathematiker Fischer sagt: “Unsere Schüler können nicht mehr Fachmann auf jedem Gebiet sein. Aber sie müssen wissen, für welches Problem sie welchen Fachmann zurate ziehen.“
Bereits die Pflichtschule soll junge Menschen befähigen, eine mündige Entscheidung zu treffen – selbst solche Entscheidungen, die gar nicht mit dem Kopf getroffen werden. Das meint zumindest Manfred Wagner, Ordinarius für Kulturgeschichte an der Wiener Angewandten: “Achtzig Prozent aller menschlichen Entscheidungen fallen durch emotionale Intelligenz.“ Die Schule konzentriere sich auf die kognitive Intelligenz. Dabei würden Musik und Malerei nachweislich die Kreativität anregen, beide Gehirnhälften beflügeln. “Über die Ästhetik lernt man ganzheitlich zu denken. Was ist jedoch in den letzten Jahren passiert? Der Kunst wurden die Stunden gekürzt“, sagt Wagner.
Der Schule fehlt die Vision, was ihre Aufgabe im 21. Jahrhundert wäre. Statt großer Reformen gibt es kleine Eingriffe: mal ein paar Stunden weniger in Latein, dann eine Kürzung in Musikerziehung. Die Lehrer haben Angst um ihr Fach und führen Verteilungskämpfe. Die Politik blockiert sich selbst, statt klare Antworten zu geben. So sieht die Diagnose eines in die Jahre gekommenen Schulsystems aus.
Die Schule von morgen
Es gäbe allerdings Lösungen: Naturwissenschaften zusammenlegen, Sozialwissenschaften bündeln, Schwerpunkte setzen. Dabei geht es nicht um den Bildungsabbau, sondern um die Chance, wieder in die Tiefe zu gehen. Wenn weniger Stoff existiert, kann man länger bei einem interessanten Aspekt verharren. Die Lehrer können wieder die Zeit für chemische Experimente finden, statt hastig von Unterkapitel zu Unterkapitel zu springen.
Diese Reformen zielen auf einen neuen Typ Schule ab: Weg von der 50-Minuten-Stunde, hin zu längeren Lerneinheiten, in denen Schüler auch selbstständig arbeiten und sich vertiefen können.
Weg von der Halbtagsschule und der teuren Nachhilfe. Hin zu einer Ganztagsschule, wo die Kinder auch gemeinsam mit den Lehrern lernen und gefördert werden. Weg vom Einzelkämpfertum, wo jeder nur starr auf seinen Gegenstand schaut. Hin zu einer neuen Allgemeinbildung, wo man fächerübergreifend denken darf. Weg von der Schule von gestern, der Schule von Stefan Zweig. Hin zur Schule von morgen.
Dieses Plädoyer ist im Falter 24/11 erschienen. Illustration: Bianca Tschaikner
Kommentare
Ich würde derartige Verallgemeinerungen vermeiden. Mathematik war für mich das einfachste Fach überhaupt, habe nie etwas gelernt, nicht aufgepasst und trotzdem fast nur “Sehr Gut” erhalten; dafür waren Aufsätze in allen unterrichteten Sprachen meist eher rot angezeichnet. Dennoch bin ich der Meinung, dass der Mathematik-Unterricht an der AHS, so wie er jetzt stattfindet, sinnlos ist.