Einst war Vergessen die Regel und Erinnerung die Ausnahme. Doch die Computer haben all das auf den Kopf gestellt, die Festplatten werden immer größer, Webseiten wie Facebook gieren danach, unser ganzes Leben digital darzustellen.
Aber Vorsicht! Diese virtuelle Selbstdarstellung ist nur ein Zerrbild, die permanente Erinnerung überfordert unser Hirn, warnt der Jurist und Internetexperte Viktor Mayer-Schönberger. Der gebürtige Österreicher hat lange Zeit in Harvard unterrichtet, ist heute an der Oxford University tätig und hat das Buch “Delete“ verfasst, eine Aufforderung zum Löschen. Dieser Tage ist Mayer-Schönberger in Wien und wird an zwei Diskussionen teilnehmen. Der Falter fragte ihn vorab, warum Erinnerung so schlecht und Vergessen so gut sein soll.
Falter: Herr Mayer-Schönberger, Facebook hat kürzlich ein neues Feature vorgestellt, die Timeline. In Zukunft werden alle Profile als Zeitleiste dargestellt. Dann kann man zurückverfolgen, was ein Onlinefreund in den letzten Jahren auf Facebook alles eingetragen hat, das reicht von der Geburt über den Abschluss des Studiums bis hin zum Start einer neuen Beziehung. Ihnen wird das vermutlich missfallen.
Viktor Mayer-Schönberger: Ja, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hat Facebook das sehr trickreich eingeführt. Seit über einem Jahr gibt es bei Facebook Datenschutzeinstellungen, bei denen man festlegen kann, welche Statusmeldungen man mit welchen Freunden teilen möchte. Zum Beispiel, ob man eine Information allgemein zugänglich macht oder nur einem engen Freundeskreis zeigt. Das ist gut. Was aber hat Facebook bei der Timeline getan? Statusmeldungen, die vor der Einführung der Datenschutzeinstellungen verfasst wurden, werden plötzlich öffentlich.
Öffentlich heißt?
Mayer-Schönberger: Öffentlich heißt, sie sind für alle Facebook-User zugänglich. Auch jene, mit denen man nicht befreundet ist.
Die User können das doch ausschalten.
Mayer-Schönberger: Ja, aber die User müssen nach dieser Einstellung suchen und diese dann anklicken. In Wirklichkeit geht es darum: Die neue Timeline macht die Geschichte von Hunderttausenden, ja Millionen von Usern zugänglich. Viele User werden zuerst überrascht sein, dann aber sagen: “Na das ist ja lustig. Das lass ich so.“ Sie werden nicht lange suchen, um die Sichtbarkeit einzuschränken. Dann hat Facebook wieder einmal gewonnen.
Facebook gaukelt uns eine falsche Realität vor. Das ist ja nicht unsere wirkliche Vergangenheit, sondern nur die Sammlung der Informationen, die Facebook von uns hat.Die Timeline ist auch deswegen so spannend, weil plötzlich die Geschichte eines Users sichtbar wird. Von der Geburt bis zum heutigen Tag, Facebook tut so, als würde es sein gesamtes Leben kennen.
Mayer-Schönberger: Das ist mein zweiter Kritikpunkt. Facebook gaukelt uns eine falsche Realität vor. Das ist ja nicht unsere wirkliche Vergangenheit, sondern nur die Sammlung der Informationen, die Facebook von uns hat. Was nicht digitalisiert wurde, was nicht Facebook mitgeteilt wurde, taucht nicht in der Timeline auf. Unser Leben ist aber viel umfassender als das. Und so ist die Timeline eine verschobene Wirklichkeit. Die Person, die wir hier wahrnehmen, hat nie existiert. Kognitivpsychologen stellten fest: Wir Menschen tendieren dazu zu extrapolieren: Wenn eine Person einmal zu viel getrunken hat, wird sie jetzt auch ein Trinker sein. Wenn jemand einmal Haschisch geraucht hat, wird er jetzt auch Haschisch rauchen. Wir Menschen ändern uns aber ständig, daher ist, was wir gestern gemacht haben, keine gute Vorhersage, was wir morgen tun werden.
Beispiel Timeline: Ich bin ein 19-jähriger Student, mit 16 habe ich ein paar Trinkfotos hochgeladen. Jetzt stellt Facebook mein Profil um, und alle sehen mich als 16-Jährigen, der betrunken auf einer Party ist.
Mayer-Schönberger: Oder Sie bewerben sich mit 25 bei einer Anwaltskanzlei, weil Sie Jus studiert haben. Die sehen Ihr Facebook-Profil und sagen: “Na, aber Frau Brodnig, einen Bsuff brauchen wir nicht.“ Sie sagen daraufhin: “Moment, ich habe seit vier Jahren nix getrunken. Das war mit 16. Haben Sie denn mit 16 nix getrunken?“ Und dann erklärt man Ihnen präpotent: “Doch, aber das war vor Facebook.“
Ihr Buch heißt “Delete“. Es ist eine Aufforderung, Information auch wieder zu löschen. Warum ist das so wichtig?
Mayer-Schönberger: Über uns wird extrem viel Information gespeichert, das ermöglicht anderen, zum Beispiel Internetdiensten, informationelle Kontrolle über uns auszuüben. Die können uns zehn 20, 30 Jahre später vorhalten, was wir ihnen quasi im Vertrauen gesagt haben.
Das klingt jetzt sehr vage. Haben Sie ein Beispiel?
Mayer-Schönberger: Natürlich. Andrew Feldmar ist ein kanadischer Psychotherapeut und an die 70 Jahre alt. Er hat in den 60er-Jahren LSD genommen und 40 Jahre später in einer wissenschaftlichen Publikation darüber geschrieben. Dann wurde er bei der Einreise in die USA gegoogelt, der Grenzbeamte fand ausgerechnet diesen Artikel. Und nun darf Feldmar für alle Zukunft nicht mehr in die USA einreisen. Das hätte er sich nie träumen lassen, dass ihm ein Artikel aus einem akademischen Journal, den Google verlinkte, Jahre später auf den Kopf fällt.
Auch wenn ich die Information gar nicht selbst ins Netz stelle, muss ich damit rechnen, dass mein Leben digitalisiert wird?
Mayer-Schönberger: Genau. Aber es ist nicht nur problematisch, dass andere die Kontrolle über unsere Daten haben. Es ist bereits schlecht, dass wir selbst so viel Information abspeichern und dazu Zugang haben. Denn so verlieren wir die Fähigkeit zu vergessen.
Was ist denn daran so schlimm? Vergessen ist doch schlecht, Erinnern ist gut.
Mayer-Schönberger: Nicht immer. Wenn Sie nach einer E-Mail suchen und durch Zufall eine ältere Nachricht finden, die Sie schon vergessen hatten, kann das negativ sein. Plötzlich taucht etwas Unangenehmes aus der Vergangenheit auf, zum Beispiel, wie Sie sich mit einem Freund gestritten haben. Durch diesen externen Stimulus hat es Ihr Gehirn schwer, das in der Gegenwart einzuordnen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. In der analogen Welt haben Sie solche Vorfälle einfach vergessen.
Ist Vergessen für unser Hirn denn so wichtig?
Mayer-Schönberger: Absolut. In Kalifornien gibt es eine Frau, die ein phänomenales Gedächtnis hat, sie erinnert sich praktisch an jeden Tag seit ihrer Jugend. Das ist für sie eine riesige Bürde. Die Kalifornierin scheitert immer wieder daran, Entscheidungen zu treffen und mit Dingen abzuschließen, weil ihr stets alle Fehler der Vergangenheit bewusst sind.
Das heißt, zu viel Erinnerung macht uns handlungsunfähig?
Mayer-Schönberger: Ja, der Mensch muss generalisieren. Wenn Sie fünf Mal auf eine heiße Herdplatte greifen und sich verbrennen, wissen Sie: Eine Platte, die rot glüht, auf die sollte man lieber nicht greifen. Das ist eine Generalisierung. Gleichzeitig vergessen Sie mit der Zeit, an welcher der vier Herdplatten Sie sich verbrannt haben.
Was wäre denn so problematisch, wenn ich mir das merken würde? Also wenn ich weiß, am 24. Oktober habe ich mich an der linken Herdplatte verbrannt?
Mayer-Schönberger: Die Erinnerung an die Einzelsituation verhindert, dass Sie abstrahieren können. Sie müssen die Details vergessen, um ein allgemeines Verständnis zu entwickeln. Erst wenn Sie den einzelnen Baum ausblenden, können Sie den ganzen Wald sehen.
Wir Internetuser haben aber kein Supergedächtnis wie die Frau aus Kalifornien. Wir speichern unsere Information lediglich am Computer ab.
Mayer-Schönberger: Richtig. Das ist auch einer der Lösungsansätze, wie man mit dem Problem umgehen könnte. Das Wiederaufrufen einer alten Information soll nicht beiläufig passieren, damit man nicht so leicht darüberstolpert. Speichern Sie Ihre alten E-Mails etwa auf einer externen Festplatte und verstauen Sie diese Festplatte in der Schublade! Dann werden Sie nur darauf zugreifen, wenn Sie gezielt nach einer Information suchen. Oder Google könnte alte Suchresultate grau einfärben, damit diese etwas vergilbt aussehen. Dann bekommen wir sofort das Gefühl, dass es sich um alte Informationen handelt, die vielleicht nicht mehr so relevant sind. Doch die derzeitigen Tools erlauben das nicht. Die Festplatten werden immer größer, und wir werden dazu erzogen, alles zu speichern.
Bisher hat einem die Gesellschaft zugestanden, dass man sich verändert. Es wurde akzeptiert, dass man Fehler macht, diese Fehler wurden vergeben – und vergessen
Hindern uns die Computer daran, uns als Menschen weiterzuentwickeln, weil wir immer mit dem alten Ich konfrontiert werden?
Mayer-Schönberger: Bisher hat einem die Gesellschaft zugestanden, dass man sich verändert. Es wurde akzeptiert, dass man Fehler macht, diese Fehler wurden vergeben – und vergessen. Psychologen sagen: Nur wer vergisst, kann auch vergeben.
Was ist so schlimm an einer Gesellschaft, die nichts vergisst?
Mayer-Schönberger: Dazu ein brutales Beispiel. In den USA gibt es ein kommerzielles Unternehmen, das Bilder von Strafgefangenen kauft, die bei der Einlieferung ins Gefängnis gemacht worden sind. Aufgrund der Gesetzeslage sind diese sogenannten Mugshots in vielen US-Bundesstaaten öffentliche Information. Diese Firma kauft die Mugshots ein, digitalisiert sie, gibt die Lizenzen an andere Webseiten weiter. Diese Webseitenbetreiber stellen die Bilder dann ins Netz, jeder User kann kostenlos darauf zugreifen. Ich kann dort zum Beispiel Ihren Namen eingeben und herausfinden, ob in den letzten 25 Jahren eine Person mit Ihrem Namen im Gefängnis saß.
Und das ist legal?
Mayer-Schönberger: Das ist gesetzlich erlaubt. Die Webseiten finanzieren sich über Onlinewerbung, weil sehr viele Menschen diese Seiten besuchen und ihr Date oder einen Bewerber überprüfen. Das kommerzielle Unternehmen wiederum finanziert sich, indem es ehemaligen Häftlingen anbietet, 450 Dollar zu zahlen. Dann wird ihr Bild gelöscht.
Die Menschen müssen sich also von dieser Erinnerung freikaufen?
Mayer-Schönberger: Bingo. Dabei baut unser Rechtssystem auf dem Vergessen auf. Als Gesellschaft lassen wir Strafgefangene frei, nach einiger Zeit tilgen wir das Faktum ihrer Verurteilung aus dem Strafregister und geben ihnen eine zweite Chance. Als Gesellschaft vergeben wir, indem wir vergessen. Und dieses kommerzielle Unternehmen hindert uns daran. Ich habe einmal eine Call-in-Sendung im US-Radio gemacht. Da rief eine Frau an und sagte, sie war mit 19 im Gefängnis, hat einen großen Fehler als Jugendliche gemacht. Sie ist dann umgezogen, hat Gott gefunden, eine Familie gegründet und sich total geändert. Dann hat ein Freund ihres Sohns herumgegoogelt und ihr Gefängnisfoto gefunden. Jetzt dürfen ihre Kinder nicht mehr mit den anderen Kindern spielen, sie hat ihren Job verloren, Teile ihrer Freunde lassen sie im Stich. Und sie sagt: “Was hat sich geändert? Ich bin nicht mehr die Person, die ich vor 20 Jahren war.“
Wie können wir uns vor zu viel Erinnerung schützen?
Mayer-Schönberger: Es muss uns gelingen, einfach weniger zu speichern oder weniger lange zu speichern. Da gibt es viele gesellschaftliche, individuelle, aber auch technische Möglichkeiten.
Sie schlagen zum Beispiel ein Verfallsdatum für Information vor.
Mayer-Schönberger: Ja, Sie könnten dabei angeben, wie lange ein Foto auf Facebook oder Flickr gespeichert bleiben soll, wenn Sie dieses hochladen. Und wenn dieser Zeitpunkt erreicht wird, wird das Bild automatisch gelöscht.
Viele User speichern aber aus Prinzip alles.
Mayer-Schönberger: Das sind die Datenhorter. Das ist verständlich: Wir sind in einer Welt aufgewachsen, in der Erinnerung die Ausnahme war und das Vergessen die Regel. Wenn Erinnern jetzt kostengünstig ist, werden wir es völlig übertreiben. Aber auch da sehe ich eine Veränderung: In den USA wurden die 18- bis 24-Jährigen befragt, ob sie ein Recht auf Vergessen haben wollen. 84 Prozent haben Ja gesagt, nahezu gleich viele wie unter den Älteren. Es gibt also sehr wohl ein Verständnis dafür, dass Speichern nicht immer gut ist.
Es gibt aber auch radikale Gegenmodelle, etwa die Meinung, dass sich unser Hirn früher oder später anpassen wird. Wir werden lernen zu vergeben, ohne zu vergessen.
Mayer-Schönberger: Das ist eine wunderbar idealistische Vorstellung, aber das funktioniert nicht! Über Zehntausende von Jahren hinweg wurden wir Menschen gedrillt, uns das zu merken, was von der Norm abweicht. Wir erinnern uns an das, was an einer Person auffällig oder anders ist. Zum Beispiel, dass er schwul oder Zeuge Jehovas ist. Diese Information können wir nicht einfach ausblenden oder auf Wunsch vergessen.
Und was ist das Problem daran, dass wir uns die pikanten Details unserer Mitmenschen merken?
Mayer-Schönberger: Niemand kann vorhersagen, wie die Zukunft aussieht und wie die persönlichen Informationen über uns genutzt werden. In unserer Gesellschaft gibt es immer die Gefahr, dass Leute aufgrund gewisser Verhaltensweisen oder Eigenschaften an den Rand gestellt werden. Vielleicht passiert das in Zukunft für etwas, was sie weit zurückliegend in ihrer Vergangenheit gemacht haben.
Facebook-Chef Mark Zuckerberg wiederum sagt, er versucht, die Welt zu einem “offeneren Ort“ zu machen. Ist das nur eine Masche, um Geld zu machen, oder glauben die Leute bei Facebook das wirklich?
Mayer-Schönberger: Das Weltbild ist in der Tat verschroben – aber das liegt natürlich auch an der Tatsache, dass man Profit machen möchte. Bei Facebook weiß niemand, womit sie langfristig Geld machen sollen. Aus diesem Grund speichern sie alle Informationen ab, weil sie noch nach dem richtigen Geschäftsmodell suchen, um ihren Datenschatz in Geld umzuwandeln. Das ist aber das Problem von Facebook, das ist nicht das Problem der Gesellschaft. Es ist absurd, die Gesell-schaft deswegen zu zwingen, ihre Privatheit aufzugeben.
Zur Person
Jahrgang 1966, stammt aus Zell am See, studierte Jus und lehrte lange Zeit in Harvard sowie an der National University of Singapore. Heute ist der Internet- und Rechtsexperte an der Oxford University tätig. Im Vorjahr erschien sein Buch “Delete – die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten“ auf Deutsch
Viktor Mayer-Schönberger in Wien
Mayer-Schönberger diskutiert mit anderen Experten über das Ende des Privaten. Do, 6. Oktober, 18.30 Uhr, Palais Epstein. Anmeldung: veranstaltungen04@parlament.gv.at
Nach der Keynote von Tim Berners-Lee, dem Vater des World Wide Web, diskutiert Mayer-Schönberger am Podium des Telekom-Austria-Events. Di, 11. Oktober, 19.35 Uhr, Live-Stream hier
Dieses Interview ist im Falter 40/11 erschienen. Bilder: Bianca Tschaikner, privat