100 Tage nach den Anschlägen: Wie geht Norwegen mit dem Trauma von Utøya um? Gibt es nun wirklich mehr Offenheit?
Lagerfeuerromantik, Kameradschaft, Idealismus. Die Augen des jungen Mannes glänzen, wenn er von Utøya spricht. Eine Insel, 40 Kilometer von Oslo entfernt, auf der Jugendliche jeden Sommer fünf Tage lang campieren. In Zelten schläft der Nachwuchs der norwegischen Arbeiterpartei, Mitglieder der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF (Arbeidernes Ungdomsfylking). Tagsüber diskutieren die jungen Menschen über die Zukunft, die sie gestalten wollen, abends feiern sie das Hier und Jetzt. “Utøya war immer auch ein Ort, an dem man neue Freunde kennenlernt, vielleicht den eigenen Freund oder die Freundin“, sagt Vegard Grøslie Wennesland. Dieses idyllische Utøya gibt es nicht mehr. Es wurde ausgelöscht. Am 22. Juli 2011 betrat Anders Behring Breivik, 32, die Insel und tötete 69 Menschen, zuvor hatte er eine Bombe im Osloer Regierungsviertel gezündet und acht weitere Personen umgebracht.
“Utøya war ein politischer Mordanschlag“, sagt Wennesland, “dieser Mann wollte mich wegen meiner Überzeugungen umbringen.“ Wennesland, 27, ist einer der Überlebenden. Der Student leitet seit kurzem die Osloer Zentrale von AUF, sein Vorgänger wurde von Breivik erschossen. Er war ein guter Freund.
Wennesland befand sich auf Utøya, als Breivik kam. Er telefonierte bei den Zelten mit einem Kumpel. “Ich hörte Schüsse. Zuerst dachte ich, das müssen Kracher sein“, erinnert er sich. Dann sah er Menschen panisch in seine Richtung laufen. “Es ist schon seltsam, wie uns Menschen die Neugier treibt.“ Mit diesen Worten erklärt er, warum er in die entgegengesetzte Richtung rannte – in Richtung Breivik. “Dann hörte ich weitere Schüsse und sah Menschen zu Boden fallen. Ich sah ihn. Wenn jemand am Boden lag, ging er zu ihm hin und schoss ihm in den Kopf.“ Nur durch Glück, weil er sich mit anderen in einer Hütte verbarrikadieren konnte, überlebte Wennesland.
100 Tage sind seither vergangen. Breivik ist mit seinem Plan gescheitert, den politischen Nachwuchs der Sozialdemokraten auszurotten. Stattdessen ist die norwegische Nation zusammengerückt. Premierminister Jens Stoltenberg (Arbeiterpartiet) gab die Devise vor: “Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit, aber niemals Naivität.“ Am “Rosenzug“ durch die Osloer Innenstadt nahmen 200.000 Menschen teil, das Motto prägte eine 18-Jährige auf Twitter: “Wenn ein Mann so viel Schmerz verursachen kann – überleg nur, wie viel Liebe wir gemeinsam zeigen können.“
Doch ist es wirklich möglich, auf Hass mit Liebe zu reagieren? Wie lange kann das Gefühl des Zusammenhaltens andauern?
Wer heute durch Oslo spaziert, sieht noch Spuren der Gewalt. Das Regierungsviertel, ein riesiger Komplex aus 2000 Büros, ist abgesperrt. Ein meterhoher Holzzaun versperrt die Sicht. Ein paar Straßen entfernt, beim Dom, liegen ein paar Kränze. Eine Passantin sieht, dass ein Blumenstock umgekippt ist. Sie stellt ihn auf, geht weiter.
Im Ausland wird diese Tat das “Breivik-Attentat“ oder die “Anschläge in Oslo“ genannt. Die Norweger selbst sprechen nur vom “22. Juli“, jeder weiß, was gemeint ist.
Pål-Fredrik Hjort Kraby betreibt nun Aufarbeitung. Der Polizei-Staatsanwalt leitet mit einem Kollegen den größten Kriminalfall in der Geschichte Norwegens. 150 Polizisten arbeiten permanent daran, der gesamte zehnte Stock der Osloer Polizeizentrale ist dafür abgesperrt. Es ist ein hässlicher Bau aus den 1970er-Jahren. “Als die Bombe hochging, war die Explosion so stark, dass sogar unser Gebäude wackelte“, sagt Kraby. Ein paar Stunden später hatte er Breivik vor sich sitzen. “Wir waren alle gespannt: Wie würde dieser Mann aussehen? Das Überraschendste war: Er schien so normal. Während andere Mordverdächtige nervös wirken, war er ruhig. Er erklärte uns, er musste es tun, um die Einwanderungspolitik in unserem Land zu ändern.“
Der Fall wirft etliche Fragen zur Polizeiarbeit auf: Warum nahm die Polizei nicht den Helikopter? Warum fuhren die ersten Beamten vor Ort nicht sofort mit einem Boot zur Insel? Die Regierung hat eine eigene Untersuchungskommission eingesetzt. Kraby sammelt indes Material für den Prozess im kommenden Jahr. Ob der Fall die Polizeiarbeit in Norwegen verändern wird? Der Beamte denkt lange nach: “Man kann zumindest mit Sicherheit sagen, dass sich der Geheimdienst PST neu orientieren wird, wo er nach Terroristen sucht.“
Diesmal kam die Gefahr nicht von einem Islamisten, sondern von einem blonden Norweger aus dem reichen Westen Oslos. “Für viele Norweger war das eine Überraschung“, sagt der Sozialanthropologe Thomas Hylland Eriksen. Das Geschichtsbild der Skandinavier baut darauf auf, dass das Böse stets von außen kommt: Zuerst wurden sie von den Dänen, dann von den Schweden unterjocht, danach kamen die Nazis. Norwegen versteht sich oft als das Land der Gutmenschen, hier wird der Friedensnobelpreis vergeben. Die einstige Premierministerin Gro Harlem Brundtland, oft Mutter der Nation genannt, sagte einst: “Det er typisk norsk å være god.“ Es ist typisch norwegisch, gut zu sein.
Vielleicht waren die Norweger zu blind, um zu sehen, was in ihrem eigenen Land passiert. Das kleine Norwegen mit seinen fünf Millionen Bürgern ist nicht mehr so homogen, wie es auf den Postkarten ausschaut, auf denen alle blond sind und Norwegerpulli tragen. Es ist ein Einwanderungsland geworden, wie in Europa üblich. Wer von den zerbombten Regierungsbüros Richtung Osten spaziert, sieht immer mehr Pakistanis, Somalier, Türken und verschleierte Frauen. Insgesamt haben 12,2 Prozent der Norweger einen Migrationshintergrund, das ist weniger als in Österreich, wo es 18,6 Prozent sind. Doch die norwegischen Einwanderer sind besonders sichtbar, weil sie in einigen wenigen Bezirken zusammenleben.
Vielen Bürgern behagt das nicht. Die rechtspopulistische Fremskrittspartiet (FrP), die Fortschrittspartei, macht damit Politik und ist bereits die zweitstärkste Kraft im Parlament. 2009 erzielte sie rund 23 Prozent der Stimmen. Nur die Arbeiterpartiet liegt noch mit 35 Prozent vor ihr. Von 1999 bis 2006 gehörte Breivik der FrP an, dann verließ er sie wütend, weil sie ihm nicht weit genug ging. Hat die Partei in den Jahren zuvor Breiviks Extremismus angeheizt? Hat sie den politischen Boden in Norwegen vergiftet, sodass nun Hass sprießt?
Wer sich als ausländischer Journalist bei der Fremskrittspartiet erkündigen will, wird gerne an Morten Høglund verwiesen. Der Parlamentarier ist quasi das freundliche Gesicht der Partei. Er sagt: “Hätten wir gewusst, welche Ansichten Breivik wirklich vertritt, hätten wir ihn ausgeschlossen.“ Er stellt seine Bewegung nicht als rechtsnational, sondern als wirtschaftsliberal dar. Mit Hetzern habe man rein gar nichts zu tun. “In Norwegen ist die Debatte vergleichsweise zivilisiert“, behauptet er, “es ist ein Unterschied, ob man den Islam als Ganzes ablehnt oder ob man über die Probleme des radikalen Islam spricht. Diese Sprache habe ich bei uns nie gehört.“
Stimmt das wirklich? Noch vor dem 22. Juli war der Ton schärfer. Parteichefin Siv Jensen sprach über die “Snik-Islamisering“, die schleichende Islamisierung. Ihr Vorgänger, Carl I. Hagen, erklärte: “Nicht alle Muslime sind Terroristen. Aber fast alle Terroristen sind Muslime.“ Damit konfrontiert, sagt Høglund: “Ja, auch bei uns war nicht jede Aussage zu 100 Prozent perfekt. Deswegen hat unsere Parteichefin gesagt: Wir werden unsere eigene Sprache überprüfen.“ Im Grunde bleibt Høglund dabei: Die FrP sei nicht islamfeindlich. “Was wir sagen, ist nicht so viel anders als das, was Angela Merkel sagt.“ Was wohl die deutsche Kanzlerin darauf antworten würde?
In einem Punkt hat Høglund sicher Recht: Die FrP ist in Europa keine Ausnahme. Viele rechte Parteien setzen auf Islamkritik. Vor der steirischen Landtagswahl bot die FPÖ das Computerspiel “Moschee baba“ an; der Spieler bekam Punkte, wenn er Muezzins, Moscheen und Minarette abknallte. Laut Grazer Straflandesgericht stellt das Spiel “keine Verhetzung“ dar, aber im Hinblick darauf, was am 22. Juli auf Utøya passierte, ist es umso geschmackloser.
Die Norweger haben der Fortschrittspartei eine Absage erteilt. Bei den Kommunalwahlen im September fiel sie von 17,5 auf 11,4 Prozent zurück. Der 22. Juli prägt die Integrationsdebatte. Es gibt Berichte, wonach Bürger zu Migranten auf der Straße sagen: Danke, dass du da bist! “Ich kenne eine junge Frau, die Kopftuch trägt. Sie wurde von einem Norweger umarmt. Wenn es eine Sache gibt, für die Norweger nicht bekannt sind, dann sind es Umarmungen“, sagt Amin Elfarri, der für den Think-Tank Minotenk arbeitet und die Probleme von Minderheiten analysiert. Er ist skeptisch, ob die allgemeine Sympathie lange anhalten wird: “Diejenigen, die nun Migranten umarmen, sind vermutlich nicht jene, die vorher über sie schimpften.“
Wie komplex die Integrationsdebatte ist, sieht man im Osloer Randbezirk Furuset, aus dem Norweger ohne Migrationshintergrund zunehmend wegziehen. Die größte Einwanderergruppe sind die Pakistanis, kürzlich eröffnete hier die große Moschee inklusive Minarett. Daneben liegt das Zentrum Furuset, eine Mischung aus Shoppingmall und sozialer Einrichtung. Hier findet gerade ein Fest des Antirasistisk Senter statt, einer NGO gegen Rassismus. Eine gebürtige Pakistani trägt einen Button, der sagt: “Jeg er også norsk“. Ich bin auch Norwegerin. Neben ihr verteilt eine Frau aus Ghana geröstete Nüsse, eine Norwegerin streicht Marmelade auf herzförmige Waffeln. Meaza Negash kam einst als Flüchtling aus Eritrea, sie meint: “Die Norweger sind eher verschlossene Leute. Seit dem 22. Juli merkt man aber, dass sie mehr auf einen zugehen, dass sie sich öffnen.“
Nicht alle öffnen sich. Nur wenige Schritte entfernt findet man Wähler der Fortschrittspartei, etwa Evy Andresen. Die 43-Jährige trinkt gerade einen Kaffee. “Wenn es nach mir ginge, wären wir schon längst weg von hier. Es gibt zu viel Schwarze“, sagt sie, “aber meine Tochter mag es hier, sie hat lauter ausländische Freunde.“ Andresen ist eine klassische FrP-Wählerin: Sie fühlt sich fremd in ihrem Viertel. “Anfangs glaubte man, die Wähler stammen aus dem wohlhabenden Westen Oslos und haben keinen Kontakt zu Migranten“, sagt Elfarri von Minotenk. “das stimmt nicht. Die Wähler stammen tatsächlich aus dem Osten. Es sind diejenigen, deren Nachbarschaft sich massiv verändert hat.“ Er wirft der Linken vor, die Probleme schöngeredet zu haben, was den Rechtspopulisten half.
“Nach diesen furchtbaren Ereignissen sollten wir eine neue Art finden, miteinander zu sprechen“, meint der Sozialanthropologe Eriksen. “Früher war Norwegen getrennt in Stadt und Land. Heute ist es getrennt in jene, die die Globalisierung und Vielfalt akzeptieren, und jene, die sich einer nationalistischen Idee anschließen.“
Eriksen ist eines der Feindbilder von Anders Behring Breivik; der Professor der Uni Oslo wird mehrfach in dessen Manifest erwähnt und als Multikulturalist verdammt. Doch ausgerechnet Eriksen spricht das Unbehagen vieler Bürger an: “Weiße flüchten aus dem Osten Oslos, und das aus nachvollziehbaren Gründen.“ Er ortet eine “fehlende kulturelle Intimität“. Erst neulich sei eine Kollegin aus einer solchen Gegend weggezogen: “Sie sagte: ‚Thomas, ich bin ehrlich zu dir: Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dort noch jemanden habe, mit dem ich mich unterhalten kann.‘“
100 Tage nach den Anschlägen ist die Fremskrittspartiet in eine tiefe Krise gestürzt. Aber auch ihre Gegenspieler, jene, die Breivik als Multikulturalisten abtat, denken darüber nach, was sie falsch machten. Es ist ein Anzeichen, dass sich Norwegen in der Tat öffnet. Eine funktionierende Demokratie muss auch unangenehme Debatten führen können. “Wir haben es nicht geschafft, den Argumenten der Rechten etwas entgegenzusetzen“, meint Vegard Grøslie Wennesland, der Osloer AUF-Chef. Zu oft hätte die Linke eine rechte Ansage als Unsinn abgestempelt oder geschwiegen. Dieses Schweigen soll gebrochen werden, meint der 27-Jährige: “Ich will eine echte Debatte. Ich will Argumente von den Rechten hören. Mit Argumenten kann ich umgehen. Mit Kugeln nicht.“
Diese Reportage ist im Falter 43/11 erschienen.
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Die links-grünen Eliten planen die Vernichtung der eingesessenen europäischen Volker durch Masseneinwanderung von Nichteuropäern, insbesondere von Muslimen, weil sie diese brauchen, um die bürgerlich-christlich geprägten Gesellschaften radikal nach utopischen Vorstellungen umzukrempeln (Antonio Gramsci hat das alles schon vor 80, 90 Jahren durchdacht) und wundern sich dann, dass es Widerstand gegen die eigene Vernichtung gibt.
Europa soll zu einem bunten Völkergemisch werden, in dem sich letztlich der Islam durchsetzen wird, während alle nicht-westlichen Gesellschaften weiterhin ihre eigenen nationalen Gesellschaften behalten und da wundert sich die Elfenbeinturmbewohner, dass die völlig durchgeknallte Selbstvernichtung nicht von allen begeistert aufgenommen wird...
Die etablierten geistigen "Eliten" in Europa haben jede Orientierung und führen die westliche Welt in den Untergang....
Was Breivik getan hat, ist moralisch nicht zu rechtfertigen, nachvollziehbar als Verzweiflungstat ist es meines Erachtens dennoch. In 10, 20 oder 30 Jahren, wenn der Bürgerkrieg um die Herrschaft in Europa tobt zwischen den muslimischen Einwanderern und den Eingesessenen, wird man das verhalten von Breivik in weiten Bevölkerungskreisen verstehen, da bin ich mir sicher!