Am 1. April tritt die Vorratsdatenspeicherung in Kraft. Das wahllose Speichern von Telefon- und Computerdaten stellt einen Paradigmenwechsel der Sicherheitspolitik dar
Sie können Peilsender am Auto anbringen, Verbindungsleute einsetzen und heimlich Videokameras in der Wohnung installieren. In den letzten 20 Jahren wurden die Polizeibefugnisse massiv ausgebaut: Lauschangriff, Rasterfahndung und erweiterte Gefahrenerforschung. Das alles wirkt unspektakulär angesichts dessen, was am 1. April Gesetz wird: die Vorratsdatenspeicherung.
Sie betrifft jeden einzelnen Bürger. Von der Großmutter, die zu Hause am Festnetz telefoniert, über den ehemaligen Finanzminister, der acht Wertkartenhandys benützt, bis hin zum Büroangestellten, der ein E-Mail sendet. Die Telekomfirmen müssen künftig alle Standort-und Verbindungsdaten für den Staat ein halbes Jahr aufbewahren. Die Polizei kann intimste Details der Bürger ergründen: Mit wem haben sie wann wo wie lange telefoniert? Wem sendeten sie SMS? Wem schickten sie E-Mails? Wann waren sie wie lange im Internet?
Der Inhalt der Nachrichten wird nicht gespeichert, wohl aber das gesamte Kommunikationsverhalten. Die Daten geben Einblicke in das Privatleben einer Person, wen sie trifft, wo sie isst, fortgeht oder die Nacht verbringt. Manchmal werden anhand der Telefondaten auch völlig falsche Rückschlüsse gezogen, wie der Fall Kampusch zeigte. Unschuldige wurden als Kinderpornosammler verdächtigt, weil sie mit einem Freund des Kampusch-Entführers telefoniert hatten.
85.000 Bürger haben sich gegen den Datenhunger des Staates ausgesprochen und eine Petition unterzeichnet, die nun im Parlament liegt. Sie fordern eine Abschaffung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Die europäischen Justiz- und Innenminister verabschiedeten 2006 die “Data Retention Directive“, ein Dokument eines nervösen Jahrzehnts, das mit 9/11 begann und am 11. März 2004 auch in Europa die Wende brachte. Islamisten zündeten via Handy zehn Bomben in Madrider Zügen. 191 Menschen starben. Am 7. Juli 2005 explodierten dann vier Bomben in der Londoner U-Bahn und in einem Doppeldeckerbus und töteten 56 Menschen.
Die Polizei entdeckte, dass sie mit den Handydaten Spuren der Täter leichter finden konnteDie Polizei entdeckte, dass sie mit den Handydaten Spuren der Täter leichter finden konnte. Kurz darauf legte Großbritanniens Premierminister Tony Blair einen Entwurf für die Vorratsdatenspeicherung vor. Auch die österreichische Justizministerin Karin Gastinger (BZÖ) stimmte zu.
Die Polizei argumentiert, dass viele Straftaten mittels moderner Kommunikationsmittel geplant werden, und sie kann Fälle vorlegen, die nur Dank der Daten aufgeklärt wurden. Ein 42-Jähriger erschlug seine Geliebte. Er hatte sich ein Alibi zurechtgelegt, während der Tat fuhr jemand anderer mit seinem Handy durch die Gegend. Die Polizei überprüfte tausende Handys, die sich nah am Tatort befanden. So konnten sie den Mann überführen: Er hatte sich ein Zweithandy mit Wertkarte zugelegt.
Oder dieser Fall in Tirol. Ein Internetuser tauschte online Kinderpornos aus. Die Polizei konnte die IP-Adresse des Verdächtigten ermitteln. Mit der Erlaubnis eines Richters forschte sie seine Identität aus, beschlagnahmte Festplatten, DVDs, USB-Sticks sowie einen Laptop – mit Kinderpornos darauf. Die Innsbrucker Polizei betont angesichts solcher Fälle die Bedeutung derVorratsdatenspeicherung: “Da viele Taten erst längere Zeit nach ihrer Verübung zur Anzeige gebracht oder bekannt werden, ist gerade die sogenannte Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten sehr wichtig.“
Ist die Sache also harmlos? Schon bisher konnte die Polizei auf viele Daten zugreifen. Die Telekomfirmen speicherten ohnehin Verbindungsdaten ab. Allerdings zu Verrechnungszwecken und nicht für den Staat.
Die österreichische Umsetzung der Data Retention ist vergleichsweise mild. Das zuständige Infrastrukturministerium zögerte bis zum letzten Zeitpunkt, ehe es eine Novelle des Telekommunikationsgesetzes vorlegte. Die Formulierungen wurden behutsam gewählt – das Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte führte die Feder. Und dennoch warnt das Boltzmann-Institut vor dieser umfassenden Datenbank.
Denn das verdachtlose Datenspeichern stellt einen Paradigmenwechsel im Grundrechtsverständnis eines liberalen Rechtsstaates dar. Bisher griff der Staat nur auf Daten zu, die für andere Zwecke ohnehin gespeichert wurden. Nun geht der Staat einen Schritt weiter: Er ordnet die Speicherung für sich selbst an. “Ich habe manchmal den Eindruck, wir werden ähnlich stark überwacht wie seinerzeit die DDR-Bürger von der Stasi“, warnte bereits im Jahr 2007 Karl Korinek, immerhin damaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofes.
Es geht nicht um diffuse Überwachungsparanoia, sondern um eine Abkehr von einem GrundrechtsverständnisEs geht nicht um diffuse Überwachungsparanoia, sondern um eine Abkehr von einem Grundrechtsverständnis. Das zeigt das “Pornokassetten-Erkenntnis“ des Verfassungsgerichtshofs aus 1991. Damals mussten die Betreiber von Wiener Videotheken aufzeichnen, welcher Bürger sich welchen Film ausgeborgt hatte. Mit dieser Liste berechneten dann die Beamten, wie viel Steuer die Videotheken zahlen mussten. Die Verfassungsrichter untersagten diese Videodatenbank. “In einer von der Achtung der Freiheit geprägten Gesellschaft“, schrieben sie, “braucht der Bürger ohne triftigen Grund niemandem Einblick zu gewähren, welchem Zeitvertreib er nachgeht, welche Bücher er kauft, welche Zeitungen er abonniert, was er isst und trinkt und wo er die Nacht verbringt“. Es sei “Sache des Betroffenen zu entscheiden, ob und was er darüber welchen anderen wissen lässt“.
Ein Urteil, das angesichts der Vorratsdatenspeicherung nur noch Makulatur ist. Nun wird das Kommunikationsverhalten aller Bürger für ein halbes Jahr gespeichert – ob sie wollen oder nicht.
Früher hatte das Strafrecht “Antwortcharakter“, die Polizei fahndete nach Verbrechern, die eine Tat begangen hatten. Heute geht es ums Risiko, gesucht wird der Gefährder. Die Polizei wird bereits aktiv, wenn sie die Anbahnung einer Tat vermutet oder gar die Erwägung der Anbahnung. Auch die erweiterte Gefahrenerforschung, also die Observation von Bürgern, die noch gar nichts verbrochen haben, aber verdächtig wirken, wird demnächst Praxis.
Die angesehensten Verfassungsrechtler legen Protest ein. “Am liebsten wäre die Polizei vor dem Täter am Tatort“, sagt Walter Berka von der Universität Salzburg. Er hat soeben ein 180 Seiten starkes Gutachten zum Datenschutz verfasst. Sein Resümee: “Während die Befugnisse der Polizei ausgedehnt werden, hinkt der Rechtsschutz der Bürger hinterher.“ So seien die Rechtsschutzbeauftragten in Innen-und Justizministerium ein unzureichendes Kontrollinstrument. Es sind meist honorige Professoren, die tausende Fälle bearbeiten sollen.
Dazu kommt der Pandora-Box-Effekt. Längst sind es nicht nur Terroristen, die mit den neuen scharfen Waffen gejagt werden, sondern Kleinkriminelle. So darf die Polizei künftig bei jenen Verbrechen auf Vorratsdaten zugreifen, die mit mehr als einem Jahr Haftstrafe bedroht sind, etwa die Falschaussage vor Gericht. Statt Schwerverbrechern werden Lügner vor Gericht gejagt.
Nur fünf Prozent lehnten einen Ausbau der Polizeirechte vehement abDas ist der Preis für Sicherheit. So sieht das zumindest die Mehrheit der Bevölkerung. “In Zeiten zunehmender Terrorbedrohung ist das weitreichende Überwachen von Privatpersonen zu akzeptieren“, erklärten zwei Drittel der befragten Österreicher den Meinungsforschern von Oekonsult im Jahr 2007. Nur fünf Prozent lehnten einen Ausbau der Polizeirechte vehement ab (Studie als PDF).
Dabei ist umstritten, ob die Vorratsdatenspeicherung wirklich so effektiv ist, wie die Politik behauptet. Forscher des deutschen Max-Planck-Instituts haben das statistisch überprüft und die Aufklärungsquoten von 1987 bis 2010 ausgewertet. Ihr Schluss: Mit Vorratsdaten werden nicht mehr Straftaten geklärt. Gäbe es dieses Instrument nicht, wäre die Sicherheit der Bürger nicht aufs Spiel gesetzt.
Es ist gar nicht so einfach, in den Terabytes an Information die echten Terroristen zu finden. Diese Erfahrung machte der Ire Leigh Van Bryan. Am Flughafen in Los Angeles angekommen, wurde er verhört und zurück nach Europa geschickt. Wieso? Die Beamten der Homeland Security durchsuchen Facebook, Twitter und Blogs nach verdächtigen Inhalten. Van Bryan hatte “I go and destroy America“ getwittert, ehe er ins Flugzeug stieg. Umgangssprachlich heißt das: “Ich fliege nach Amerika und lasse es krachen.“ Dass damit eine Party und keine Bomben gemeint seien, wollten ihm die Heimatschützer nicht glauben.
Ist die Vorratsdatenspeicherung also ein Schritt in den modernen Überwachungsstaat? Mit der Stasi haben die richterlich kontrollierten Polizeibehörden wenig zu tun. Die Data Retention zeigt aber, wie in Zeiten des Terrors Polizeirechte hastig ausgedehnt und neue Grenzen überschritten werden. Sind neue Überwachungstools erst einmal eingeführt, legt der Gesetzgeber häufig nach. So wurde das Sicherheitspolizeigesetz, das heimliche Ermittlungen der Polizei regelt, seit der Einführung im Jahr 1991 mehr als 20-mal nachgeschärft.
Da werden sogar Pragmatiker wie der Rechtsprofessor Berka stutzig. Er lehnt die Speicherung von Vorratsdaten nicht einmal generell ab, über die wachsenden Polizeibefugnisse sagt er aber: “Ich frage mich, ob wir als Gesellschaft den Moment erkennen, wo es heißen müsste: Jetzt ist es genug.“
Werden Europas Verfassungsgerichte den Paradigmenwechsel stoppen? Die Höchstrichter in Rumänien und Tschechien – zwei Staaten, die vor 23 Jahren noch Stasi-Methoden kannten – geben Hoffnung. Sie hoben die Vorratsdatenspeicherung in ihrem Land als verfassungswidrig auf. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte massive Einsprüche an der deutschen Umsetzung und stoppte diese im März 2010.
Der Widerstand zeigt offenbar Wirkung: Die EU-Kommission evaluiert gerade, ob man die verpflichtende Vorratsdatenspeicherung wieder abschaffen könnte. So kommt es zur paradoxen Situation, dass Österreich widerwillig die Data Retention einführt, während Europa gerade ihre Abschaffung erwägt.
Dieser Artikel erschien im Falter (Ausgabe 11/12). Illustration: PM Hoffmann
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