Einst dominierte Nokia den Markt, heute sperrt es die letzte finnische Fabrik zu. Ein Reise ins Finnland nach Nokia
“Ich muss mir wohl einen neuen Job suchen“, sagt die junge Frau. Sie kauft gerade eine Flasche Rotwein in der Spirituosenhandlung und schaut betrübt drein. Seit gestern weiß Sanna Koponen, die ihren richtigen Namen nicht verraten will, dass sie ab September arbeitslos ist. Nokia streicht 10.000 Stellen in ganz Europa, 3700 Arbeitsplätze davon in Finnland.
Die 26-jährige Finnin mit den rotgefärbten Haaren und dem Piercing in der Augenbraue lebt in der Industriestadt Salo. Hier steht die letzte finnische Nokia-Fabrik. Koponen ist Datenverarbeiterin bei einem Nokia-Zulieferer und indirekt auch vom Personalabbau betroffen. Überrascht hat sie das nicht: “Wir wussten alle, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Aber traurig ist es schon. Ich werde wegziehen müssen. Hier in der Gegend gibt es keine Arbeit.“
Nokia kämpft ums Überleben. Der Konzern hat nur acht Prozent Marktanteil bei den modernen Smartphones. Eine Milliarde Euro Verlust schrieb er allein im ersten Quartal dieses Jahres (Update: Im 2. Quartal 2012 waren es sogar 1,4 Milliarden Euro). Marktführer ist mittlerweile der südkoreanische Konkurrent Samsung. Während Apple zur stilprägenden Marke wurde und Samsung zum erfolgreichsten Verkäufer, wurde aus dem einstigen nordischen Aushängeschild Nokia ein Sanierungsfall, der Finnlands Politik und seine Bevölkerung plagt.
Nokia ist für die Finnen mehr als nur eine große Firma: Das Unternehmen ist fast schon Teil ihrer Identität. Jahrelang sprachen sie voller Stolz über den Weltkonzern aus ihrem 5-Millionen-Einwohner-Land. Im Spitzenjahr 2007 sicherte Nokia mehr als 20.000 Jobs und lieferte 3,2 Prozent des finnischen Bruttoinlandsprodukts.
Doch 2007 brachte Apple auch das iPhone heraus. Bald begann der Abstieg des damaligen Marktführers. Aus Handys wurden Smartphones – kleine Computer, mit denen man in erster Linie gar nicht mehr telefoniert, sondern ins Netz geht. Nokia hat diese Revolution verschlafen. Den Preis zahlen nun auch die Finnen.
Nirgendwo merkt man das so sehr wie in der Kleinstadt Salo, eineinhalb Stunden westlich von Helsinki, wo Nokia seine ersten Handys produzierte und jahrelang für Wohlstand sorgte. Im Zentrum stehen zahlreiche Geschäfte leer. Nur in den Auslagen der Immobilienbüros gibt es viel Angebot: Kleinfamilienhäuser werden reihenweise verscherbelt. Die Menschen ziehen weg.
“Ich habe Angst um Salo“, sagt Mari Ylhäisi, 20. Die Studentin ist in der Industriestadt aufgewachsen. Sie hat miterlebt, wie Nokia und Salo kräftig wuchsen. Die Fabrik am Stadtrand lockte Arbeiter aus ganz Finnland. Ständig mussten neue Wohnungen, Kindergärten und Schulen gebaut werden, um Platz für die vielen neuen Menschen zu schaffen. “Jetzt wird es so leer sein“, fürchtet Ylhäisi.
Wenn riesige Konzerne wie Nokia, General Motors oder Kodak zusammenbrechen, reißen sie ganze Regionen mit sich. Ende des Jahres wird in Salo jeder fünfte Einwohner arbeitslos sein. Das ist ein Dilemma für die Stadt und auch die Regierung in Helsinki: Die kämpft bereits mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit und muss nun Notfallspläne für Ex-Nokia-Mitarbeiter schmieden. Ihre Antwort: möglichst viele Start-ups fördern, möglichst viele neue Arbeitsplätze im Technologiesektor schaffen.
An dem Tag, als Nokia den Jobabbau bekannt gibt, sitzt Europaminister Alexander Stubb vor ausländischen Journalisten. Eigentlich wollte er mit den Medienvertretern aus Indien, Polen oder Spanien über europäische Wirtschaftspolitik sprechen, stattdessen schweift die Diskussion immer wieder zu Nokia ab. “Wir sind alle erschüttert“, sagt Stubbs. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein silbernes Lumia-Phone, das derzeitige Flaggschiff von Nokia. “Mein Handy liefert mir permanent Neuigkeiten rund um Nokia“, sagt Stubbs, “Nokia ist Teil unserer Erfolgsgeschichte seit den 1990ern und auch psychologisch sehr wichtig. Die Schließung der Fabrik in Salo schmerzt die finnische Psyche.“
Vielleicht waren die Finnen zu lange von Nokias Glanz geblendet und vertrauten zu sehr darauf, auf dem hektischen Mobilfunkmarkt ewig Nummer eins zu sein. Auch die Medien berichteten erst spät von der Krise, in die der Konzern schlitterte.
Dabei spürten viele Mitarbeiter schon früh, dass sich etwas geändert hatte – zumindest behaupten sie das heute. “Einst konnte man Vorschläge machen, und es wurde einem zugehört“, sagt Kalle Väänänen, der 19 Jahre lang bei Nokia gearbeitet hat, “aber irgendwann in den Nullerjahren änderte sich das.“ In seinen Augen wurde die Firma zu bürokratisch, die Techniker hatten zwar Ideen, doch die Manager setzten diese nicht um.
So hatte Nokia schon 2004 einen Prototypen mit Touchscreen entwickelt, lange vor dem iPhone. Allerdings kam das Handy niemals auf den Markt. Den Chefs erschien dieses Konzept der tastenlosen Steuerung angeblich zu gewagt (Update: auch gibt es Berichte, dass interne Konflikte zum Niedergang Nokias führten). Väänänen, der in der Einkaufsabteilung arbeitete, verabschiedete sich vor drei Jahren mit dem Golden Handshake: 15 Monatsgehälter für langgediente Mitarbeiter. Jetzt besucht er gerade die Beratungsstelle Protomo, die potenziellen Unternehmern bei der Firmengründung hilft. Väänänen möchte mit einem anderen Ex-Nokia-Kollegen eine Beratungsfirma starten und finnische Klein- und Mittelbetriebe unterstützen. Immerhin ist der 53-Jährige ein Profi, er hat auf der ganzen Welt berufliche Kontakte und weiß, wie man beim Einkauf von technischem Equipment einen guten Preis bekommt.
Das ist die Hoffnung der finnischen Politik: dass dieses Know-how, das im Technikkonzern Nokia gebündelt wurde, in viele kleine Start-ups fließt. Nur einen Tag nachdem Nokia mitteilte, 3700 Stellen zu streichen, beschloss die Regierung ein “Wachstumspaket“: 300 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung.
Es gibt sie tatsächlich: Nokia-Angestellte, die nun in spannenden jungen Firmen arbeiten. Sirpa Kemppainen war 21 Jahre lang bei Nokia tätig, heute arbeitet sie in dem kleinen Technikunternehmen Powerkiss, das 2008 gegründet wurde. “Unsere Firma ermöglicht es den Leuten, ihr Handy drahtlos aufzuladen“, sagt Kemppainen. Als Operation Managerin ist sie für Einkauf, Herstellung und Logistik zuständig (siehe auch Seite 19). “Für Firmen ist das eine gute Mischung: junge Köpfe frisch von der Uni und ältere Mitarbeiter, die das Geschäft kennen.“
Es wird sich zeigen, ob all die kleinen Firmen tatsächlich jene große Lücke füllen können, die Nokia am Arbeitsmarkt aufreißt. Aber die Finnen versuchen es zumindest – und sprechen dabei von “Sisu“.
Sisu ist ebenfalls identitätsstiftend für die nordische Nation. Es ist ein nur schwer übersetzbares Wort und bezeichnet die angeblich typisch finnische Mentalität, dass man nie aufgibt, dass man weiterkämpft, egal wie düster die Lage scheint.
Eine harte Aufgabe hat auch Peter Soinu. Der Mann mit Hipsterbrille und Glatze sitzt in seinem Büro im Industriegebiet von Salo, gleich neben der Nokia-Fabrik. Er hat selbst 13 Jahre gegenüber in der Forschungsabteilung gearbeitet und wesentlich an der Konzeption einiger Handys mitgewirkt. Heute werkt er für die Stadt Salo, soll neue Firmen anlocken. Stundenlang kann er über dieses Thema, über Technikcluster und Synergien sprechen. Zum Schluss erzählt er, dass er Nokia verließ, weil es ihm irgendwann zu bürokratisch wurde: “Ich bin jemand, der Dinge gerne rasch umsetzt.“
Für die Industriestadt Salo hat er sich schon einen Fünfjahresplan ausgedacht. “Es ist harte Arbeit, aber ich habe ein Konzept, wie wir aus dieser Situation wieder rauskommen.“ Das ist vermutlich, was die Finnen mit Sisu meinen.
Diese Reportage erschien in Falter 27/12, die Fotos habe ich in Helsinki und Salo gemacht. Sie zeigen Lumia Phones, die neuen Flaggschiffe Nokias, sowie eine Kassa im Nokia-Store und den Eingang zur Fabrik in Salo, die geschlossen wird.