Sowohl SPÖ als auch ÖVP reden um den heißen Brei herum: Ghettoschulen gibt es längst. Das gehört geändert
Yusuf hat Pech. Er ist ein vifer Bub, doch er hat leider das, was Bildungsforscher einen “Migrationshintergrund“ nennen und stammt aus einer sogenannten “bildungsfernen“ Schicht. Seine Eltern kamen vor zehn Jahren aus der Türkei und arbeiten in Österreich als Hilfskräfte. Sie können sich eine 45-Quadratmeter-Wohnung in Ottakring leisten. Frühmorgens steht die Mutter auf, zieht ihr Kopftuch an und putzt Büros in der Innenstadt. Sie hofft, dass ihr Sohn eines Tages auch in einer dieser Firmen arbeiten und am österreichischen Wohlstand teilhaben wird. Dafür kamen die Eltern hierher: Yusuf ist in Österreich geboren, besucht in Kürze eine Wiener Volksschule. Er soll es eines Tages besser haben.
Leider lässt die Bildungspolitik Kinder wie ihn im Stich. Sie liefert sich Scheindebatten, anstatt über die echten Probleme zu sprechen. Das beste Beispiel dafür ist die Debatte um die Vorschule: Die ÖVP will, dass Schulanfänger mit mangelnden Deutschkenntnissen ein Vorschuljahr absolvieren müssen, ehe sie in die Volksschule dürfen. Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) warnte zuerst vor “Ghettoklassen“. Jetzt schwenkt sie um und kann sich eine verpflichtende Vorschule vorstellen.
Das ist pure Augenauswischerei. Auch ein verpflichtendes Vorschuljahr, vor dem etliche Experten warnen, löst nicht das tiefere Problem: In vielen Wiener Volksschulen gibt es kaum mehr Kinder, die zu Hause Deutsch sprechen. Die sogenannten “Ghettoklassen“, vor denen die Ministerin warnt, existieren längst. In Bezirken wie Rudolfsheim-Fünfhaus oder Ottakring sind Schulen mit mehr als 90 Prozent Migrantenanteil ganz normal.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Yusuf dort landen wird. Seine Klassenkameraden werden ihm kein besseres Deutsch beibringen können, weil sie es selbst nicht beherrschen, ebenso wenig wie ihre eigene Muttersprache. Die Lehrer werden zwar ihr Bestes tun, aber in solchen Klassen versteht oft der Großteil der Schüler selbst simple Aufgaben nicht.
Kommt die verpflichtende Vorschule, dann lernen die Kinder im besten Fall eine Spur besser Deutsch. Im schlechtesten Fall führt es dazu, dass die Migranten erst recht wieder unter sich bleiben. Genau davor warnen die Experten.
Die große Frage lautet: Wie können wir die Zusammensetzung in den Klassen verbessern? Damit ein Bub wie Yusuf auch Freunde findet, die zu Hause Deutsch sprechen.
Schon jetzt haben 51 Prozent der Kinder an Wiener Volksschulen eine andere Muttersprache als Deutsch, Tendenz steigend. Die Situation wird durch ein Zweiklassensystem verschärft: Eltern aus sogenannten “bildungsnahen“ Schichten schicken ihren Nachwuchs in Schulen mit alternativen pädagogischen Konzepten oder bilingualem Angebot, wo kaum Migranten die Schulbank drücken. Dahinter verbirgt sich kein Rassismus, sondern der Wunsch, dass das Kind gute Chancen im Leben bekommt.
Yusufs Eltern wünschen sich das Gleiche: Etliche Studien zeigen, dass Migranten die Bildung ihrer Kinder ebenso wertschätzen. Allerdings kennen sich die Einwanderer oft nicht mit dem Bildungssystem aus.
Wenn Yusuf viel Glück hat, schafft er vielleicht doch den Bildungsaufstieg. Die Realität ist aber, dass den meisten Kindern dies nicht gelingt.Also besucht Yusuf die nächstgelegene Schule in Ottakring, wo jene Sechsjährigen landen, die nirgendwo sonst unterkommen oder deren Eltern das System nicht durchschauen. Begriffe wie “Matura“ oder “Dissertation“ bleiben für die Kinder Fremdworte. Wenn Yusuf viel Glück hat, etwa einen tollen Lehrer bekommt, schafft er vielleicht doch den Bildungsaufstieg. Die Realität ist aber, dass den meisten Kindern dies nicht gelingt. Ihnen fehlt die Vorstellung, was eine Universität oder ein Gymnasium überhaupt ist und wofür es gut sein soll. Oder wie es der Nationale Bildungsbericht so spröde formuliert: In Österreich gibt es eine “geringe Aufwärtsmobilität“.
Wie lässt sich das ändern? Die ÖVP-Politikerin Katharina Cortolezis-Schlager schlug einmal vor, Kinder mit Bussen durch Wien zu führen und die Migranten zu verteilen. Eine gute Idee, aber unpraktikabel. Einige Städte haben das “Crosstown School Bussing“ ausprobiert, selten mit Erfolg. Wer will schon sechsjährige Kinder quer durch die Stadt schicken?
Die Berliner hatten eine andere Idee. Sie hoben die freie Schulwahl auf, jedes Kind musste in die nächstgelegene Schule gehen. Was dazu führte, dass reiche Familien fluchtartig den Wohnort wechselten und sich die Situation so verschlimmerte. Plötzlich wohnen Arme und Reiche in getrennten Gegenden.
Eine simple Lösung? Die gibt es nicht. Trotzdem könnte die Politik einiges tun: etwa die Ghettoschulen attraktiver machen. Wenn Standorte mit hohem Migrantenanteil noch mehr Lehrer erhalten und spannende pädagogische Konzepte anbieten, werden auch besser gebildete Eltern neugierig. Das Ziel der Bildungspolitik muss sein, dass keine Schule mehr so abschreckend wirkt.
Langfristig gehört auch die Gesamtschule her: Solange der Staat die Kinder mit zehn Jahren trennt, wird das zu Panik bei den Eltern und zu einem Zweiklassensystem führen.
Mehr Geld in die Ghettoschulen stecken und das Zweiklassensystem strukturell bekämpfen – manch einem konservativen Geist wird das zu teuer oder zu schmuddelig erscheinen. Diese Investition ist aber letztlich ein Schnäppchen: Denn Yusuf kann zur Gesellschaft mehr beitragen, wenn er Schweißer, Schlosser oder Arzt wird – und nicht Hilfsarbeiter oder lebenslanger Sozialhilfeempfänger.
Dieser Kommentar ist in Falter 3/13 erschienen. Bild: Heribert Corn