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„Zu einer offenen Debatte gehört das offene Visier“

Cicero Online erlaubt keine anonymen Postings mehr – ein Gespräch mit Christoph Seils, Ressortleiter Online, über Hasspostings und die Anonymität im Internet

Unter dem Schutz der Anonymität würden viele Leserinnen und Leser “Debatte mit Pöbelei” verwechseln, meint das deutsche Magazin “Cicero” und stellt das Online-Forum um: Anonyme Kommentare sind seit einer Woche nicht mehr erlaubt.

Diese Reaktion von “Cicero Online” ist ein weiterer Beleg, dass immer mehr Medien und Onlinedienste die Störenfriede nicht mehr hinnehmen wollen – ein zentraler Aspekt meines Buchs (Buchpräsentation heute).

Cicero hat ein vergleichsweise kleines Forum, pro Tag gab es bisher etwa 50 bis 100 Kommentare. Doch zu viele davon waren untergriffig oder eine Themenverfehlung, meint Christoph Seils. Der Ressortleiter Online erklärt, wieso sein Medium die Anonymität nun bekämpft, wie die Leser bisher darauf reagieren und dass ihm auch viele Kollegen dazu gratulierten.

Herr Seils, seit vergangener Woche sind anonyme Kommentare in Ihrem Forum verboten. Warum?

Christoph Seils: Zum einen erhielten wir immer mehr anonyme Kommentare, die sich nicht sachlich mit Themen auseinandersetzten, sondern pöbelten, Hass schürten, rassistische oder antisemitische Klischees verbreiteten. Wir waren es einfach leid, uns ständig mit diesen Kommentaren auseinandersetzen. Zum anderen glauben wir, dass auch im Internet zu einer offenen Debatte das offene Visier gehört. Die Kommentatoren sollen ihren Namen und Wohnort nennen – so wie das bei gedruckten Zeitungen jeher üblich ist.

Sie meinen die herkömmlichen Leserbriefe?

Seils: Genau, im gedruckten Journalismus ist es üblich, dass man in der Tageszeitung oder auch bei Monatsmagazinen wie dem „Cicero“ nur jene Leserbriefe veröffentlicht, bei denen der Leserbriefschreiber auch seinen Namen nennt. Warum sollte das online anders sein? Warum sollen wir uns von denjenigen terrorisieren lassen, die mit der anonymen Tarnkappe im Internet Hass verbreiten?

Es gibt allerdings auch andere Möglichkeiten, um online für einen guten Ton zu sorgen. Zum Beispiel: Strengere Moderation. Warum reichte in Ihren Augen eine strikte Moderation nicht mehr aus?

Seils: Wir haben auch schon bisher unsere Kommentare moderiert und bei weitem nicht alles veröffentlicht, was wir erhielten. Wie schon gesagt, in letzter Zeit nahm die Zahl der anonymen Kommentare zu. Wir haben das in der Redaktion lange diskutiert. Unser Schluss: Wir sind ein Debattenmagazn im Internet und wollen eine Debatte mit offenem Visier, bei der sich die Leute zu ihrer Meinung mit ihrem Namen bekennen. In unseren Augen ist nur so eine anspruchsvolle und auch demokratische Debatte möglich.

Es geht nicht rein darum, dass Menschen nicht zu ihrer Meinung stehen wollen. Vielen Usern behagt die Transparenz der verschriftlichen Kommunikation nicht. Wenn ich auf Cicero.de einen Kommentar hinterlasse, dann ist der zum Beispiel via Google auffindbar. Verstehen Sie diese Bedenken?

Seils: Durchaus, aber schauen Sie doch nur auf Facebook, wie viele Millionen Menschen dort öffentlich kommentieren und jederzeit auffindbar sind. Auch in anderen Bereichen des Netzes stört es viele Leute offensichtlich nicht, dass sie unter ihrem vollen Namen diskutieren. Mir ist schon bewusst, dass wir womöglich bestimmte Leute ausschließen. Aber das war eine Güterabwägung innerhalb unserer Redaktion, bei der wir uns letztlich für den Klarnamen entschieden.

Sie sind nicht das erste Medium, das anonyme Kommentare verbietet. Zwei neue Studien – die auch in meinem Buch vorkommen – zeigen etwa, dass es in der Tat zu weniger Beschimpfungen kommt, wenn Menschen mit ihrem Klarnamen posten. Wie sind bisher Ihre Erfahrungen?

Seils: Wir haben die Kommentare erst letzte Woche umgestellt, das müssen wir also noch näher beobachten. Bisher ist die Resonanz aber durchaus positiv. Wir erhielten bisher mehr Kommentare, die diesen Schritt begrüßen als ihn kritisieren, und es wird weiterhin – wenn auch nicht ganz so viel wie bisher – bei uns kommentiert und diskutiert.

Sie fordern die Leser auf, ihren echten Namen, den Wohnort und eine Mailadresse anzugeben. Aber können Sie garantieren, dass alle User wahrheitsgetreu antworten? Ein Kommentator heißt zum Beispiel „Peter Lustig“ und sein Wohnort lautet „Wohnwagen“.

Seils: Stimmt, das können wir nicht. Natürlich lässt sich das umgehen und Fantasienamen erfinden. Wir überprüfen diese Angaben nur auf innere Logik hin. Wobei die Mailadresse nicht veröffentlicht wird. Uns ist vor allem das Signal wichtig und wir würden uns freuen, wenn sich andere Onlinemedien dem anschließen und diese Art der Online-Debatte Schule macht. Darüber hinaus prüfen wir weiterhin jeden Kommentar vor der Veröffentlichung.

Bei Ihnen wird wirklich jeder Kommentar gelesen, bevor Sie ihn freischalten? Eine so gründliche und teure Kontrolle ist im deutschsprachigen Raum selten.

Seils: Ja, das taten wir auch schon in der Vergangenheit. Wir löschen alle Hasskommentare, alle Kommentare, die nicht zum Thema passen, völlig unsachlich sind oder nur den Autor beschimpfen. Wenn Sie ein Forum betreiben, in dem nur gepöbelt und unsachlich argumentiert wird, dann haben viele Menschen überhaupt keine Lust mehr, sich mit einem sachlichen Einwand zu beteiligen. Durch die Pöbeleien werden somit auch Leute ausgegrenzt, die sehr gerne sachlich mitdiskutieren würden.

Sie hoffen, dass nun andere Zeitungen die Anonymität im Forum abschaffen. Wie realistisch ist das?

Seils: Beim Tagesspiegel führte die Meldung, dass wir anonyme Kommentare abschaffen, zu einer Debatte im Forum, bei der auch die Leser kontrovers diskutierten. Wir bekamen etliche Zuschriften von Kollegen, die das begrüßen. Bei vielen Onlineredaktionen und Journalisten findet derzeit ein Umdenkprozess stattfindet. Ich kann mir also vorstellen, dass andere Zeitungen dem folgen werden.

Sie sagten bereits, dass manch einer bei Ihnen womöglich nicht mehr mitdiskutieren wird. Sehen Sie das langfristig als Gefahr, wenn manche User so sehr zurückschrecken, ihren echten Namen anzugeben, dass sie lieber schweigen?

Seils: Die Frage ist: Warum fürchten sich Menschen, ihren Namen anzugeben und zu ihrer Meinung zu stehen? Es ist doch nichts Unehrenhaftes, bei einem Qualitätsmagazin wie „Cicero“ mitzudiskutieren. Als Debattenmagazin im Internet haben wir durchaus Mut zu abweichenden Thesen, zu klaren Worten, auch unsere Autoren vertreten mitunter sehr kontroverse Meinungen. Warum sollte dasselbe nicht auch in den Kommentaren möglich sein?

Journalisten profitieren allerdings davon, wenn wir unsere Meinung sagen, wir profilieren uns mit solchen Kommentaren. Ein KfZ-Mechaniker oder Chirurg profitiert nicht notwendiger Weise davon, wenn er zu Hartz IV seine Meinung abgibt.

Seils: Ich sehe Ihren Punkt. Aber wie gesagt: Auch wenn manch einer in Zukunft vielleicht einen Fantasienamen angeben wird oder gar zurückschreckt, einen Kommentar zu schreiben, war das für uns eine Güterabwägung, bei der wir uns letztlich für die Debatte mit offenem Visier entschieden haben.

 

Links:

Erklärung von “Cicero Online” zur Abkehr von der Anonymität

– Auch die “Huffington Post” will keine anonymen Kommentare mehr. Neue User müssen sich via Facebook registrieren

Diskussion beim Tagesspiegel: “Anonym Kommentieren war gestern?”

– Im Blog Netzpolitik.org hat Leonhard Dobusch eine ausführliche Rezension verfasst. Er zitiert darin auch ein Diagramm aus meinem Buch, das zeigt, dass User mit Klarnamen seltener beleidigende Postings verfassen

– Hinweis zur Buchpräsentation heute Abend: 13.2.2014, Rhiz in Wien

 

 

Credits: Das Bild von Christoph Seils stammt von Cicero.de, das obige Foto ist von Flickr-User Keoni Cabral

Categories: Anonymität
Ingrid Brodnig:
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