Das Web, wie wir es kennen, ist dem Untergang geweiht: Immer mehr Daten und Informationen werden von digitalen Riesen wie Google oder Facebook monopolisiert. Die renommierte Netz-Vordenkerin Emily Bell erklärt, warum das jeden Smartphone-Besitzer betrifft.
“Facebook verschlingt die ganze Welt.” Mit dieser Ansage sorgte die britische Digitalexpertin Emily Bell für Aufsehen. In einer prägnanten Rede an der Universität Cambridge analysierte die Wissenschafterin und frühere Medienmanagerin diesen März den ungeheuren Einfluss der sozialen Medien. Diese hätten nicht nur den Journalismus verschlungen, sondern sich auch politische Kampagnen, private Daten, die gesamte Unterhaltungsindustrie, den Einzelhandel sowie Informationen seitens des Staates einverleibt. “Unser Nachrichten-Ökosystem hat sich in den vergangenen fünf Jahren stärker verändert als zu irgendeiner Zeit in den vergangenen 500 Jahren”, meinte sie – und erntete Applaus.
Bell leitet das Tow Center für digitalen Journalismus an der Columbia University. Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” bezeichnet sie als “besonnene Wissenschafterin, bekannt für ihre klugen Analysen des Medienwandels”. Der “Guardian”, dessen Online-Chefin Belleinst war, nennt sie einen “Digital-Guru”. Diese Woche wird sie in Wien auf der renommierten Journalismuskonferenz GEN-Summit auftreten, zu der Medien aus der ganzen Welt anreisen. Dort diskutiert Bell über die Macht der Internetplattformen. Das Web befindet sich im Wandel: Immer mehr Inhalte liegen nicht auf Millionen von Websites verstreut, sondern zentral auf den Datenspeichern einzelner IT-Konzerne -speziell Facebook. Mit profil sprach Bell schon vor ihrem Wien-Besuch: über den großen Nutzen von Smartphones -und die Gefahren, die für unsere Demokratie entstehen könnten.
profil: Sie sagen, Facebook fresse die Welt, und das Smartphone sei das zentrale Tool dabei. Wie meinen Sie das?
Emily Bell: Die Smartphones beeinflussen, wie nahe wir uns anderen Menschen fühlen und welche Aspekte der Welt wir wahrnehmen. Im Schnitt haben Menschen ungefähr 25 Apps auf ihrem Handy installiert, aber sie verwenden am Tag nur vier oder fünf -am häufigsten jene von sozialen Medien. Natürlich wirkt sich das auf unser Leben aus.
profil: Wie läuft das konkret ab?
Bell: Viele haben mittlerweile die Erwartung: Wenn eine Nachricht wichtig ist, wird sie mich schon finden. Unsere Smartphones beginnen dann prompt zu vibrieren. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal von einer bedeutenden Neuigkeit erst aus dem Fernsehen erfahren habe. Als in Brüssel die Terroranschläge stattfanden, haben viele sofort in den sozialen Medien nachgesehen, ob es ihren Bekannten in Brüssel gut geht. Wir haben das Gefühl, dass diese Ereignisse näher gekommen sind. Der Raum zwischen uns ist kollabiert.
Bei den jüngsten Attentaten konnten Facebook-Nutzer per Knopfdruck markieren: “Ich bin in Sicherheit” – das sahen dann all ihre Freunde. Dieser Dienst ist praktisch, sagt aber viel über das Selbstverständnis der Site aus. Facebook will zur Anlaufstelle für alles werden, selbst für Sicherheitsmeldungen nach Terroranschlägen. Generell findet derzeit ein Machtkampf im Netz statt: Die vier großen Plattformen Facebook, Google, Apple und Amazon – Bell nennt sie die vier “apokalyptischen Reiter” – kämpfen um die Aufmerksamkeit der Nutzer. Einige Medien beunruhigt diese Entwicklung: So hängt beispielsweise der Erfolg von Artikeln im Netz stark davon ab, wie vielen Menschen sie auf Facebook eingeblendet werden.
profil: Viele Medienhäuser fühlen sich Facebook gegenüber ausgeliefert. Aber wie ist die Situation für normale Konsumenten: Haben die es dank der sozialen Medien besser oder schlechter?
Bell: Wenn Sie mich in einem Schwarzweiß-Schema fragen, lautet mein Urteil: eindeutig besser.
profil: Und wenn es nicht schwarzweiß sein muss?
Bell: Die sozialen Medien sind für alle Teile der Gesellschaft praktisch -sogar für die ärmsten. Denken Sie an Flüchtlinge: Deren wichtigstes Besitztum ist das Handy. Es hilft ihnen, durch Kriegsgebiete zu navigieren und bis nach Europa zu finden. Selbst diese Menschen, deren Leben gefährdet ist, nutzen dieselben Kommunikationstools wie Sie und ich. Jedoch stellt sich die Frage: Wie wirken sich diese Dienste auf unsere Demokratie aus? Kann ein Vorteil für uns als Konsumenten zum Nachteil für uns als Staatsbürger werden? Der Gradmesser hierbei ist wohl, ob man der Ansicht ist, dass Mark Zuckerbergs Site besser ist als die Mediensituation vor Facebook.
Damit spielt Bell auf etablierte Medien und ihr Gatekeeper-Rolle an: Früher entschieden Redaktionen, was Menschen über die Welt erfuhren. Behagte einem die redaktionelle Auswahl nicht, konnte man in vielen Ländern den Sender oder die Zeitung wechseln. Im Netz erleben wir hingegen eine Konzentration: Jeden Tag greifen 1,1 Milliarden Menschen auf Facebook zu -eine solche Marktmacht hatte früher keine Redaktion dieser Welt.
Für Empörung sorgte neulich der Vorwurf, dass Facebook-Bedienstete in der Rubrik “Trending Topics” Nachrichten konservativer Medien aussortiert haben sollen -dieses Feature zeigt populäre Themen an, ist aber in Ländern wie Österreich bisher gar nicht erhältlich. Viel wichtiger als “Trending Topics” ist ein anderer Baustein der Site: Für jeden Nutzer entscheidet ein Algorithmus, also ein kluges Computerprogramm, welche Postings er eingeblendet bekommt. Nur wie das genau funktioniert, sagt Mark Zuckerberg nicht. In ihre Algorithmen geben Internetriesen wie Facebook oder Google keinen Einblick, sie bieten auch unabhängigen Forschern nicht an, Tests durchzuführen, um so die Funktionsweise und Fairness dieser Software besser evaluieren zu können. Dass Algorithmen zunehmend prägen, was Menschen über die Welt wissen, ist ein zentraler Forschungsgegenstand am Tow Center der Columbia University in New York, das Emily Bell leitet.
Bell: Neu ist die Unklarheit, was wir online zu sehen bekommen. Selbst wenn man ein detailliertes Verständnis von Algorithmen hat, lässt sich nicht durchblicken, wie die Algorithmen der IT-Plattformen arbeiten. Nachfragen oder Rechenschaft einfordern, nützt bisher nichts. Wir sollen dem einfach vertrauen.
profil: Worin liegt hier die Gefahr?
Bell: Nehmen wir an, Facebook würde eines Tages entscheiden, keine Neuigkeiten über Terrorismus mehr einzublenden; oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan würde die sozialen Medien überreden, kritische Inhalte nicht mehr herzuzeigen. Solche Szenarien mögen absurd klingen, nur welche Sicherheitsmechanismen gibt es denn dagegen? Facebooks Antwort würde wohl lauten: “Wir haben erstklassige Techniker engagiert, die sofort einen anderen Job finden würden. Wir müssen ein gutes Unternehmen sein, sonst laufen uns die erstklassigen Mitarbeiter weg.” Das ist schon viel Vertrauen, das wir in den Markt stecken sollen. Der Harvard-Professor Lawrence Lessig vergleicht Programmiercodes beispielsweise mit Gesetzen. Jedoch sind Gesetze nachvollziehbar, ihre Verfasser sind rechenschaftspflichtig. Eine Diktatur zeichnet sich dadurch aus, dass man nicht weiß, wie Gesetze genau entstehen, wie sie einen treffen, wie man Gesetze ändern kann. Auch Algorithmen diktieren Teile unseres Lebens, etwa, welche Information wir erhalten. Wir können das aber nicht beeinflussen.
profil: Vergleichen Sie gerade Facebook mit einer Diktatur?
Bell: Nein. Aber man kann sich diesem System nicht so leicht entziehen. Können große Medienhäuser etwa auf Facebook verzichten? Ich hege da Zweifel.
Ganz so geheimnisvoll müssten die Internetriesen dabei nicht agieren. Zum Beispiel könnte mehr algorithmische Transparenz gesetzlich vorgeschrieben werden. Auch wäre es für Sites wie Facebook möglich, den eigenen Kunden nicht nur einen, sondern unterschiedliche Algorithmen zum Filtern anzubieten. Vermehrt gibt es gute Ideen -auch von Wissenschaftlern wie Emily Bell. Das Erfrischende an ihrer Expertise ist, dass sie den digitalen Wandel grundsätzlich begrüßt, aber gleichzeitig dessen Schattenseiten sieht und verständlich macht. Eine zentrale Rolle werden hierbei auch jene Menschen spielen, die diesen Code schreiben.
profil: Müsste Technikern ihre Macht bewusst gemacht werden?
Bell: Absolut. Leider sind Ethik und Philosophie noch nicht in allen IT-Studienplänen verankert, wobei es langsam besser wird. Neulich hielt ich eine Vorlesung für Programmierer an der Columbia University. Wir sprachen über einen Shitstorm auf Twitter, der eine Person in den Suizid trieb. Einer der Studierenden hob die Hand und meinte: Sie können wohl kaum behaupten, dass Technik schuld dran ist? Ich sagte ihm: Diese Frage ist zu simplifizierend. Bei vielen technischen Systemen wurde oftmals gar nicht darüber nachgedacht, wie dieser Dienst von destruktiven Menschen eingesetzt werden könnte oder wie er jene Bevölkerungsgruppen betrifft, die besonders viel Hassrede erleben. Zu sagen, “wir sind nur der Lieferant von Technologie, mehr nicht”, wird als Argument in Zukunft nicht ausreichen.
Dieses Interview erschien im profil (Ausgabe 24/16). Foto: privat.