Essen als Selbstinszenierung, das Gourmetrestaurant auf Knopfdruck in den eigenen vier Wänden: Wie die digitale Welt unseren Ernährungsstil beeinflusst und unser hedonistisches Bewusstsein schärft.
Freitagabend, Nina Heidorn kommt aus dem Büro heim. Vor der Wohnungstür in einem Wiener Außenbezirk steht ein großes Paket, gefüllt mit genau rationierten Lebensmitteln. Über das Internet haben die 29-Jährige und ihr Lebensgefährte Stefan Tacha diese “Kochbox” bestellt. Aus den zugestellten Nudeln, Salat, Erdbeeren und zahlreichen anderen Zutaten lassen sich exakt drei Mahlzeiten für zwei Personen herstellen. Die Rezepte werden natürlich auch mitgeliefert. “Man erspart sich extrem viel Zeit: So fallen das Einkaufen und Herumdiskutieren weg, was wer am Abend essen möchte”, sagt Heidorn. Ihr Freund ergänzt: “Und am Ende bleibt auch nichts übrig, so wird vermieden, dass Essensreste im Kühlschrank vor sich hin rotten.”
Sonntagabend, der PR-Berater Fabian Lebersorger sitzt auf seiner Couch. Er zückt das Handy und öffnet die App des Bestelldienstes Foodora. Für sich und Freunde, die zu Besuch sind, bestellt er Burger aus einem amerikanisch inspirierten Lokal. “Wenn ich Gäste habe und nicht zum Kochen komme, finde ich Foodora äußerst praktisch: Man bekommt Essen aus erstklassigen Lokalen und muss nicht beim Glutamat-Chinesen bestellen”, sagt er. Foodora ist ein Internetdienst, der Fahrradboten engagiert und Speisen von Restaurants liefert, die sonst nicht zustellen. Mittels einer eigenen App wird auch das Burger-Lokal über die Bestellung informiert und ein Radbote zur Abholung geschickt.
Ebenfalls ein Sonntagabend, allerdings im schicken Restaurant “aiola upstairs” in Graz: Die Steirerin Manuela Pucher, 38, geht mit Freunden essen. Mit ihrer Spiegelreflexkamera fotografiert sie jedes Gericht und macht Notizen. Später wird sie auf ihrer Seite testesser.at ihre Essrezension bloggen und das schmackhafte Beef Tatar und das Kalbsfilet loben. Sie ist eine von mehreren Foodbloggern, die jede Woche zwei Wirtshäuser testen und den Steirern online neue Lokale empfehlen. Mit großem Feedback: “Offensichtlich füllen wir eine Nische. Sonst würden wir nicht so viele ‘Likes’ und Aufmerksamkeit erhalten”, freut sich Pucher.
Zusätzlich zu den Rezept-Diensten, den Apps berühmter Köche und den Bloggern (siehe Kasten) tauchen nun neue Geschäftsmodelle auf, die den Zugang zu Speisen revolutionieren wollenEssen an sich ist zwar etwas total Analoges, doch viele Vorgänge rund ums Essen lassen sich digitalisieren – und werden tatsächlich zunehmend ins Internet verlagert. Begonnen hat das vor einigen Jahren mit den berühmten Foodblogs – jenen Websites, auf denen Normalbürger über Essen reflektieren oder Rezepte liefern. Für jeden noch so kleinen Nahrungstrend, jeden kulinarischen Fetisch gibt es passende Blogs und Social-Media-Accounts. Sogar für Veganer, die sich ohne Kohlenhydrate ernähren wollen, findet man eigene Websites (sie brauchen die Info wohl auch, weil ohne tierische Produkte und ohne Kohlehydrate nicht mehr viel zum Essen übrigbleibt). Zusätzlich zu den Rezept-Diensten, den Apps berühmter Köche und den Bloggern (siehe Kasten) tauchen nun neue Geschäftsmodelle auf, die den Zugang zu Speisen revolutionieren wollen: So erstellen etwa Ernährungsberater und Köche des deutschen Unternehmens Hello Fresh wöchentliche Rezepte und entsprechende Einkaufslisten. Premium-Zustelldienste wie Foodora bieten eine simple Software, mit der man sich per Radboten Gerichte von erstklassigen Restaurants liefern lassen kann – deren Betreiber früher beim bloßen Gedanken an Zustelldienste erschauert wären. Gerade die Essensbestellung ist ein gigantischer Zukunftsmarkt, der Jahr für Jahr wächst. Laut Beraterunternehmen Kreutzer, Fischer und Partner gaben die Österreicher 2014 für selbst abgeholte oder per Lieferservice bestellte Gerichte 578 Millionen Euro aus.
Was sagt all die Zeit, die viele von uns im Internet mit Themen rund ums Essen verbringen, über unsere Gesellschaft aus? Und wie ändert das die gesamte Gastronomie?
In der Sprache spiegelt sich ein Wandel bereits wider: Zusätzlich zum “Gourmet”, der luxuriöses Essen sucht, gibt es den “Foodie”, der immer gut essen will, aber nicht unbedingt teuerIn der Sprache spiegelt sich ein Wandel bereits wider: Zusätzlich zum “Gourmet”, der luxuriöses Essen sucht, gibt es den “Foodie”, der immer gut essen will, aber nicht unbedingt teuer. Foodies stehen auf regionale Produkte, shoppen auf Märkten und verbringen gern einen großen Teil ihrer Zeit mit “Foodporns”. Sie ergötzen sich an wunderschönen Essensbildern im Netz wie an saftigen Steaks oder Schokokuchen.
Foodpornografie wird zwar vielfach im Internet ausgelebt – doch der Reiz am Posten und Betrachten der Essensfoto hat mit einem größeren gesellschaftlichen Wandel zu tun, meint die Ernährungswissenschafterin und Trendforscherin Hanni Rützler: “Essen wird zunehmend als Tool gesehen, mit dem wir uns ausdrücken. Mit dem, was man isst, und mit dem, was man nicht isst, zeigt man, wer man ist. Weil Essen auch eine Selbstdarstellung ist, betreiben zum Beispiel Modemarken mittlerweile auch eigene Restaurants.”
Sind wir Essensfoto-Poster also alle digitale Narzissten, die ihre Bilder wie Lifestyle-Trophäen sehen? Hanni Rützler findet diese Form des Nahrungsexhibitionismus eher positiv: “Was wir in vielfacher Weise beobachten können, ist eine Rückeroberung des Essens. Gerade eine junge Zielgruppe spricht sehr viel miteinander über Esskultur und tauscht sich auch im Internet darüber aus.” Das verändere auch, wie sich Wirte und Restaurantbetreiber positionieren müssen.
“Ein großer Teil meiner Kunden weiß schon, was er bestellt, wenn er das Lokal betritt. Sie haben sich online längst entschieden”, sagt der Gastronom Michael Vesely. Mit seiner Frau Adelheid Reisinger betreibt er das kleine Wiener Innenstadtlokal “Reisinger’s“, das so gut läuft, dass sie mittlerweile lediglich zu Mittag aufsperren. Das Restaurant passt ganz zum Zeitgeist vieler Foodies: Die Zutaten kommen von kleinen Produzenten aus der Umgebung, um Fertigprodukte wird ein großer Bogen gemacht. Dass man sich als eine “Slow Food”-Gaststätte mit vielen lokalen Lieferanten versteht, wird auch stolz auf der Website beworben. Vesely kennt sich mit Online-Marketing aus: Er war früher Manager in der IT-Branche. Er weiß, dass sich das Internet wunderbar eignet, um Neugier zu wecken und einen Hype zu erzeugen.
Um sich ins Radarsystem der Foodies zu rücken, fungiert die künstliche Verknappung als beliebtes RezeptUm sich ins Radarsystem der Foodies zu rücken, fungiert die künstliche Verknappung als beliebtes Rezept. Sogenannte Pop-up-Lokale haben nur eine beschränkte Zeit lang aufgesperrt, oft einige Monate, manchmal gar nur ein paar Stunden. An einem Samstag im Mai etwa verkauften Michael Vesely und Adelheid Reisinger Pastrami auf dem Wiener Brunnenmarkt -also jenes zarte, saftige Rindfleisch, das viele aus den New Yorker Delis (und dem Film “Harry und Sally”) kennen. Über Wochen hinweg wurde das Projekt online angekündigt, auf Facebook gab es 1300 Anmeldungen für das Event, das gerade einmal drei Stunden dauerte. Die Nachfrage war so erfolgreich geschürt worden, dass Menschen sogar 40 Minuten auf ihr Pastrami-Sandwich in der Schlange warteten.
Nicht nur in der Bundeshauptstadt gibt es solche Pop-ups. Das Salzburger Restaurant “Paradoxon” hat in der Vergangenheit immer wieder neue Konzepte ausprobiert – zuletzt konnten sich im Lokal die Gäste ihre Bärte von einem Barbier trimmen lassen. Das passt dann auch wunderbar zur digitalen Selbstdarstellung: Ein Essensfoto haben viele schon gepostet -aber eine Lokalaufnahme mit einem Barbier darauf, das ist dann selbst auf dem Bilderportal Instagram eine Seltenheit.
So beeinflusst der digitale Wettbewerb um “Likes” tatsächlich auch reale Speisen. Wer nicht gerade das Billigsegment bewirtet, achtet darauf, dass das Essen Instagram-tauglich ist. Die Fotos davon sollen so verlockend und cool aussehen, dass Menschen das auch auf Instagram teilen. Von der Einrichtung bis zur Anrichtung verfolgen viele Lokale ein ästhetisches Konzept. Der Burger kommt nicht auf irgendeinem Teller, sondern auf einem urig wirkenden Holzbrett, dazu die Pommes cool aufgestellt im Glas -“shabby chic” heißt der Look und lässt sich beispielsweise im Bistro der Wiener Bäckerei Joseph Brot im 3. Wiener Bezirk beobachten (und selbstverständlich fotografieren). Auf einem der papierenen Untersetzer, die auf den Tischen liegen, steht keck: “Bitte nur die eigenen Speisen fotografieren.” Ob sich alle Gäste bisher daran gehalten haben, darf hinterfragt werden. Dabei sind die Wirte oft selbst die stärksten Konsumenten von Foodporn. “Abends, bevor ich schlafen geh, schau ich gern noch auf Instagram: Was haben die anderen Geiles produziert ? Sicher bringt einen das auch auf Ideen, was gut ausschaut”, sagt Josef Weghaupt, Chef von Joseph Brot. Auf diese Weise reisen auch Essens-Designtrends rasch um den Globus: Man muss gar nicht im dänischen Spitzenrestaurant Noma dinieren, um zu wissen, wie dort die Speisen angerichtet werden -um dies womöglich auch zu kopieren.
Die Foodpornografie hat Gerichte in vielen Gasthäusern zur stilistischen Herausforderung werden lassenDie Foodpornografie hat Gerichte in vielen Gasthäusern zur stilistischen Herausforderung werden lassen. Die Schattenseite des Ganzen ist, dass einander vieles ähnlich ist -von der Optik bis zur Speisekarte. Egal, ob man in Brooklyn oder in Innsbruck isst, hippe Lokalen bieten oft ähnliche Gerichte: Zur Zeit sind Burger, Pulled Pork Sandwiches und als Dessert Cheesecakes angesagt. Und zum Runterspülen gibt es natürlich ein Craft Beer, also handwerklich gebrautes Bier aus kleinen, hippen Brauereien. Eine solche “Microbrewery” ist etwa Bierol aus Schwoich in Tirol, die 2014 von drei Mittzwanzigern gegründet wurde. Ihr stark gehopftes, geschmacksintensives Craft Beer entspricht ganz dem Trend.
Doch führen die Hypes im Internet nicht erst recht zur Gefahr, dass sehr ähnliche Biere auf den Markt kommen?”Das ist nicht nur eine Gefahr, das ist so”, meint Christoph Bichler, einer der Gründer von Bierol. Zum Beispiel sind aktuell Sauerbiere total angesagt -wer als Braumeister mit dem Zeitgeist segelt, fährt derzeit mit Sauerbieren auf die großen Biermessen.
Dass es weltweit einheitlichen Geschmack gibt, sehen auch Onlinedienste wie Foodora: Erst vor zwei Jahren gegründet, ist der Zustelldienst mittlerweile auf zehn Märkten aktiv. In all diesen Ländern – von Australien über Schweden bis nach Kanada – lieben die Kunden Burger. Seit gut einem Jahr ist Foodora, ein Münchner Unternehmen, auch in Wien tätig. “Unsere Zielgruppe ist zwischen 25 und 40 Jahre alt. Wir sprechen viele Young Professionals an, also Singles, berufstätige Paare, oder auch Jungfamilien”, sagt Julian Dames, 28, einer der Gründer des Unternehmens.
Für den Kunden ist das System simpel, wenn auch nicht unbedingt preisgünstig: Man zahlt eine Liefergebühr von 3,50 Euro und dazu Preise wie im Restaurant. Der Mindestbestellwert beträgt 15 Euro. Die Hoffnung solcher Start-ups ist, dass die Mittzwanziger und Mittdreißiger nur die Vorreiter eines größeren Trends sind: Dass auch ältere, gut verdienende Konsumenten in Zukunft auf den Geschmack kommen, über eine App das Essen auszuwählen.
Die Rechnung ist dabei eng kalkuliert: Zum einen hat Foodora – verglichen mit anderen Internetdienstleistern -hohe Personalkosten. In jeder neuen Stadt gibt es ein eigenes Team, weltweit engagiert Foodora bereits 1000 Mitarbeiter und 8000 Fahrer (von denen die meisten angestellt sind). Zum anderen ist es auch für die Wirte kein so großes Geschäft, wie man denken könnte. 25 bis 30 Prozent des Umsatzes sind Konzession. Manch ein Restaurant stieg auch schon wieder aus dem Lieferservice aus – etwa das Wiener Traditionsrestaurant Figlmüller, bekannt für sein Schnitzel. “Es ging mir aber nicht einfach nur um Prozente, also wie viel Foodora von uns erhält. Wir hatten zum Start einen Vertrag ausgehandelt – und den wollte man zwei Mal nachjustieren. Das hat mich gestört”, sagt Thomas Figlmüller, 37. An sich ist er dem Zustelldienst positiv gegenüber eingestellt -anders als manch anderer Gastronom glaubt er nicht, dass die Internetdienstleister dem klassischen “Grätzlgasthaus” das Geschäft wegnehmen. “Ich halte das großteils für ein Zusatzgeschäft: Ins Wirtshaus gehe ich doch nicht nur wegen des Essens, sondern auch wegen der Atmosphäre und des Tapetenwechsels.”
Laut Trendforscherin Hanni Rützler sind Online-Zustelldienste eine logische Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel seit den 1970er-JahrenLaut Trendforscherin Hanni Rützler sind Online-Zustelldienste eine logische Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel seit den 1970er-Jahren: Zunehmend wurde es normal, dass Frauen nicht jeden Abend zu Hause kochen. Männer entdeckten auch das Hobbykochen -und heutige “Food Startups” wie Foodora oder Hello Fresh spiegeln das alles online wider: “Die Apps helfen Menschen, sich besser über Ernährung und Speisen zu informieren. Die Technik ist aber nur ein Hilfsmittel von vielen. Wir sehen vielmehr einen generellen Wertewandel, speziell im urbanen Raum. Es geht nicht mehr um das schnellere Auto, die größere Portion, sondern auch um bewusstes und lustvolles Essen.”
Es ist somit falsch, dass Technik unsere Gesellschaft verändert. Sie erweitert nur das Spektrum der Möglichkeiten. Vielmehr setzen sich jene digitalen Dienste durch, die den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht werden -und sei es das dringende Verlangen nach einem glutenfreien Tofu-Burger.
Dieser Artikel ist in profil (Ausgabe 35/16) erschienen unter dem Titel “Food-Pornografie”. Das abgebildete Foto habe ich im Bistrot von Joseph Brot gemacht.