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Mit uns reden immer nur die Falschen

Wer die Probleme am Wiener Straßenstrich bekämpfen will, muss zuallererst mit den Prostituierten sprechen




Es war ein schöner Sommertag, Martina* fuhr im Prater Autodrom. Danach ging sie alleine spazieren, stolzierte die Lusthausstraße entlang. Ein Mann fragte, ob sie Geld verdienen wollte. Sie ging mit ihm mit. Das war Martinas Einstieg in die Prostitution – vor 24 Jahren. Sie war gerade 14.

Heute steht sie am Ende der Mariahilfer Straße. Freiwillig, wie sie betont. Sie ist Prostituierte am Wiener Straßenstrich. Eine jener Frauen, über die nun alle reden: Die FPÖ schimpft über die „Auswüchse des Straßenstrichs“, verärgerte Anrainer klagen über Lärm und Schmutz. Die SPÖ will jetzt Ordnung machen. Die Stadt Wien hat einen 7-Punkte-Plan entwickelt und investiert 140.000 Euro, um den Straßenstrich neu zu regeln.


Die Sorgen am Straßenrand

Unter den sieben Punkten finden sich sinnvolle Maßnahmen wie mehr Sozialarbeit und eine Anlaufstelle für Anrainer. Aber auch weniger sinnvolle. Die Stadt will den Straßenstrich verlegen – weg aus den belebten Wohngebieten, hin an unwirtliche, unbelebte Orte. Seit 1. Juli kontrolliert die Polizei tatsächlich strenger, ob die Prostituierten nur in den erlaubten Zonen stehen. Geändert hat das aber nichts.

Mit den Frauen selbst hat niemand geredet. Ihre Stimme fehlt in der Debatte. Wenn Medien Prostituierte zu Wort kommen lassen, dann häufig nur in der Opferrolle, als ob jede einzelne um ihr Leben fürchten müsste. Oder kokett: Dann werden die Frauen dem Zuseher in Strapsen vorgeführt. Mit dem Alltag und den wahren Sorgen haben diese Bilder aber wenig zu tun. Vor allem Preisdumping, Wettbewerb und miserable Gesetze belasten die Prostituierten.

Am Straßenstrich wird viel gesudert. Über schlechte Preise und Freier, die keine Manieren mehr haben. Auch Martina, die an der Straßenecke steht und den Autos nachschaut, jammert: „Früher war das noch ein gutes Geschäft, da hast in einer halben Stunde 1000 Schilling verdient“, sagt die 38-Jährige. Heute verlangt sie nur noch 50 Euro für eine halbe Stunde und 30 Euro für schnellen Oralsex im Auto. Der Standardtarif am Trottoir.

Es gibt aber auch Prostituierte, die weniger verlangen. „Ficken und Blasen 30 Euro“, wirbt eine rundliche Bulgarin ein paar Häuserblocks weiter. Es ist einer der wenigen Sätze, die sie auf Deutsch beherrscht.

Schuld am Verfall der Preise ist der gestiegene Wettbewerb. 2002 waren in Wien noch weniger als 500 Prostituierte legal gemeldet, heute sind es fast 2300. Die meisten kommen aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien. „Kein Wunder, für die sind 100 Euro das, was für uns 1000 sind“, sagt Gabi. Sie ist eine langjährige Kollegin von Martina, kam in den 90er-Jahren selbst aus Ostdeutschland. Damals hatte sie mindestens 15 Freier pro Nacht, heute ist sie froh, wenn sie drei hat. „In einem guten Monat verdiene ich 1500 Euro“, sagt die Frau im weißen Minirock, „da kriegt manch eine Putzfrau mehr.“ Viele Freier wollen um den Preis auch noch feilschen. „Die fangen bei zehn Euro an und wollen dann noch aufs Kondom verzichten“, meint Gabi. Bei ihr gibt es ausschließlich geschützten Geschlechtsverkehr. „Nicht nur wegen der Gesundheit. Manche Männer sind auch wirklich grauslich. Wenn man bei denen die Hose aufknöpft, kommt einem schon ein Gestank entgegen“, erzählt die Prostituierte.

Die Wienerin und die Ostdeutsche arbeiten hier aus freien Stücken und haben keinen Zuhälter. Viele mag das wundern, die zwei stehen aber lieber hier als im Billa hinter der Wursttheke. „Hier bin ich mein eigener Chef“, meint Gabi. Und Martina sagt: „In anderen Jobs musst du hart arbeiten.“

Doch der Straßenstrich hat viele Gesichter. Es gibt Frauen, die freiwillig anschaffen gehen. Und solche, die tatsächlich Gewalt und Zwangsprostitution erleben. Im Mai wurde eine Rumänin in Favoriten mit brennbarer Flüssigkeit übergossen und angezündet. Es heißt, die Frau wollte auf der Linzer Straße anschaffen, ohne den dortigen Zuhältern Schutzgeld zu zahlen.

Auch Katerina kennt Gewalt. Selbst wenn man das der 28-Jährigen nicht ansehen würde. Wenn die Polin lächelt, strahlt ihr Gesicht regelrecht. Und sie lächelt viel. „Dabei hat alles falsch angefangen“, meint sie.

Katerina hatte niemals die Wahl, ob sie Prostituierte werden wolle oder nicht. „Mit 18 war ich dumm und verliebt“, sagt sie. Sie ließ sich von ihrem damaligen Freund in den Westen locken. „Er hat gesagt, dass ich nur ein bisschen Striptease tanzen muss“, erinnert sich Katerina. Stattdessen nahm er ihr den Pass ab und zwang sie, mit Freiern zu schlafen. Wenn sie sich weigerte, prügelte er sie und drohte ihrer Familie.


„Putz dich, Schlampe“

Es dauerte lange, bis Katerina weglief. Ihr Peiniger ist noch immer frei, heute betreibt er ein Bordell in Wien. Sie zeigt ihn trotzdem nicht an. „Ich will keine Probleme. Er weiß, wo meine Mutter wohnt“, sagt sie. Diese Furcht hält viele Frauen von der Aussage ab.

Katerina hatte Glück im Unglück. Zuerst trieb sie ihr Freund in die Prostitution, wegen ihres Ehemannes will sie nun aussteigen. Manfred hat sie als Kellner im Bordell Katerina kennengelernt und geheiratet. Nach zwei Jahren Ehe bekommt seine Frau im August die Arbeitsbewilligung. „Endlich, dann hört sie hier auf“, meint er. Der Österreicher ist wütend auf den Staat, der seiner Frau erst jetzt erlaubt, einer „normalen“ Arbeit nachzugehen. Er ist wütend auf den Richter, der einen Freier freisprach, der Katerina krankenhausreif geprügelt hat. Und auf die Polizei, die sich nicht immer korrekt verhält. „‚Putz dich, Schlampe‘, hat einer zu ihr gesagt. Das war wirklich toll, wie sie den dann beschimpft hat“, sagt Manfred stolz.

Jeden Abend, wenn Katerina anschaffen geht, parkt Manfred sein Auto ein paar Meter entfernt und passt auf. „Sonst wäre es zu gefährlich“, sagt er und kommt gleich auf die Rumänin zu sprechen, die angezündet wurde. Sie hatte in der Gegend gearbeitet. Neulich war das Verbrennungsopfer zu Besuch. „Wahnsinn, sie hatte ein entstelltes Gesicht wie Freddy Krueger“, sagt Manfred, „trotzdem hat sie gemeint, dass sie in zwei Jahren wieder anschaffen geht.“

Diese Reportage war die Cover-Geschichte des Falter 29/10. Illustration: Bianca Tschaikner

Das Geheimnis vor der Familie

Viel wird über Morde und schwere Gewalt an Prostituierten berichtet. Man könnte meinen, dass die Frauen nun verängstigt an der Straßenecke stehen. Die Realität sieht anders aus. Gabi und Martina reißen zwischendurch Schmähs. Ein paar Straßen weiter holt eine junge Prostituierte ihr Handy heraus und spielt ihrer Kollegin lautstark einen Song vor.

Das ist die Arbeitsrealität der Frauen. Sie haben gelernt, mit viel Gewalt und beängstigenden Situationen umzugehen. Zum Beispiel verstecken sie alle ihr Geld, bevor sie zu einem Typen ins Auto steigen. Zu viele sind schon ausgeraubt worden. Auch prägen sie sich die Nummerntafeln der Autos ihrer Freier ein oder halten für Notfälle den Tränengasspray griffbereit.

Das Leben am Tag ist für viele Frauen aber auch schwierig. Manche, wie Martina, verheimlichen ihren Job. Die Familie der Wienerin glaubt, dass sie nachts kellnert. Auch tun sich viele Frauen schwer, Männer außerhalb des Milieus zu finden. „Als gutaussehende Frau musst du vorsichtig sein“, erzählt Ramona, eine 25-jährige Ungarin, „du weißt nie, ob dich ein Mann für deine Schönheit oder für dein Geld liebt.“ Das konnte sie schon bei vielen Kolleginnen beobachten: Zuerst will der Mann nur ein bisschen Geld für die neue Lederjacke, dann soll ihm die Frau die teure Autoreparatur zahlen. „Mit 23 Jahren schnorren die Typen. Mit 40 sind sie dann echte Zuhälter“, meint Ramona. Deswegen habe sie keinen Freund.

Wie trennen das die Frauen emotional, wenn sie beruflich mit ihrem Freier und privat mit ihrem Freund ins Bett gehen? Martina vergleicht ihre nächtliche Arbeit mit einem One-Night-Stand, bei dem es kein Gefühl und keine Zärtlichkeit gibt. „Das sagt einfach das Herz, ob’s geschäftlich oder privat ist“, meint Martina.

Nicht alle Frauen sind so tough und können dieser Arbeit jahrelang nachgehen: die Rumänin Theodora zum Beispiel. Sie steht im weißen Negligé auf der Felberstraße, seit September arbeitet sie hier. „Ich tue es nur fürs Geld“, sagt die 23-Jährige in gutem Englisch, „ich will damit mein Managementstudium finanzieren, in Rumänien ist Studieren nämlich teuer.“

Bisher ist Theodoras Plan nicht aufgegangen. In den vergangenen drei Monaten habe sie nur 3000 Euro verdient. „Die Männer merken, dass ich die Arbeit nicht mag, deswegen habe ich auch keine Stammkunden“, klagt sie. Jetzt will sie nur noch nach Hause, weg von Wien, weg vom Strich. Zum Glück geht bald ihr Flieger.

Wo Theodora steht, ist der Straßenstrich besonders derb. Eine Kollegin spaziert in Spitzenunterwäsche herum und räkelt sich am Straßenschild, als wäre es eine Stripteasestange. Kein Mann kann durch dieses Grätzel marschieren, ohne Einladungen von Prostituierten zu bekommen: „Hallo Schatzi, gemma ficken?“ Auch normal gekleidete Frauen müssen damit rechnen, von Freiern angesprochen oder angehupt zu werden. „Jede Frau hier ist Freiwild“, sagt Uwe Schön, der mitten am Straßenstrich wohnt. Rein rechtlich wäre der Großteil der Felberstraße Schutzzone, die Prostituierten dürften hier gar nicht stehen. Nur ignorieren das viele. Schön und seine Frau haben vor kurzem eine Bürgerplattform gegründet. Jeden Freitag marschieren sie gegen den Straßenstrich auf. Die Anrainer klagen über benutzte Kondome auf dem Fenstersims oder über den Lärm, der sie nächtens vom Schlafen abhält. „Natürlich sind hier auch früher Prostituierte gestanden, aber niemals in diesem Ausmaß“, meint Schön. Er wohnt seit mehr als 20 Jahren in der Felberstraße.

Anrainer und Prostituierte plagt dasselbe Problem. Mittlerweile stehen viel zu viele Frauen auf der Straße, das macht die Preise kaputt und mehrt Krach und Unordnung. Nun schaukeln sich die Emotionen hoch: Manche Bürger sind schon so frustriert, dass sich ihr Zorn an einzelnen Frauen entlädt. Am Ende der Mariahilfer Straße beugt sich zum Beispiel eine Bewohnerin aus dem Fenster und leert ein Glas Wasser auf die Frau am Trottoir. Jetzt steht die Prostituierte mit nassen Kleidern auf dem Gehsteig. Eine milde Form von Selbstjustiz.

Damit solche Dinge nicht passieren, schaltet die Stadt Wien Sozialarbeiter ein. Die Prostituiertenberatungsstelle Sophie soll neuerdings das Vertrauen zwischen Behörden, Anrainern und Prostituierten fördern. Tagsüber wurde bereits eine Telefonhotline eingerichtet. „Wir sind nicht in der Lage, das Problem sofort zu lösen“, meint Eva van Rahden, die Leiterin von Sophie, „aber wir versuchen auf die Spitze des Eisbergs positiv einzuwirken.“

Van Rahden ist eine der Expertinnen des Straßenstrichs. Sie weiß, dass eine wirkliche Verbesserung nur über bessere Gesetze erreicht werden kann. Die Rechtslage schützt die Frauen zu wenig. Einerseits ist Prostitution erlaubt, andererseits sind Verträge über sexuelle Leistungen sittenwidrig. Das heißt, Prostituierte können ihre Honorare nicht einklagen, wenn ein Freier nicht zahlen will. „Die Sittenwidrigkeit abzuschaffen, wäre ein erster Schritt“, meint van Rahden.


Die Frauen haben Ideen

Auch die Stadt Wien will, dass der Bund die Sittenwidrigkeit abschafft. Das ist einer der cleveren Punkte im 7-Punkte-Programm. Andere sind weniger schlau: So hat die Stadt zwei Zonen eingerichtet, in denen Sexarbeit dezidiert erlaubt ist. Auf einem kurzen Abschnitt der Linken Wienzeile und hinter dem Technischen Museum sollen die Frauen nun stehen.

Der Lokalaugenschein zeigt: An jeder anderen Straßenecke stehen die Prostituierten, nur hier findet sich keine einzige. „Da ist es so dunkel, und jetzt blockiert auch noch eine Baustelle alles“, sagt eine Ungarin. Eine echte Lösung könnte nur mit den Frauen gemeinsam gefunden werden. Gabi aus Ostdeutschland hätte schon ein paar Ideen. Sie plädiert etwa für „Verrichtungsboxen“ – Garagen, in die die Frauen mit ihren Freiern hineinfahren. „Wenn einer unangenehm wird, gibt es einen Alarmknopf. Dann kommt sofort ein Bewacher“, sagt Gabi. Dieses System gibt es schon in Köln.

Hierzulande gibt es noch keine ernstzunehmende Diskussion, wie die Prostitution besser geregelt werden könnte. Nur alle sind sich einig: Die Situation ist schlimm.

„So kann es nicht weitergehen“ sagt auch Martina. Es ist Freitagabend, kurz vor Mitternacht. Die Wienerin hatte erst einen Kunden – trotzdem ist ihr Geldbörsel leer. Weil sie mit dem Freier in einer Schutzzone erwischt wurde, musste sie 30 Euro Strafe zahlen. Eine Auswirkung der strengeren Kontrollen. „Alle schimpfen nur noch, alle sind unzufrieden“, meint Martina. Wenn sich nicht bald etwas ändere, sagt sie, werde sie den Straßenstrich verlassen. Ob sie dann ganz mit der Prostitution aufhört? „Nein, dann geh ich ins Studio arbeiten.“



* Die Namen sämtlicher Prostituierten wurden geändert

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Die Pläne der Stadt Wien

Mit sieben Maßnahmen will Frauenstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ) die Situation am Straßenstrich entschärfen. Ein Verbot der Straßenprostitution kommt für sie nicht infrage: „Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass Verbote nur zu einem Erstarken der illegalen Prostitution führen.“ Das sind die Maßnahmen:

– eine bessere Hilfe für Anrainer. Dazu zählen Sprechstunden und eine Beschwerdehotline (Tel. 0676/88 666 222), sie steht wochentags von 10 bis 17 Uhr bereit

– zwei Erlaubniszonen, in denen die Prostituierten dezidiert erwünscht sind: auf der Linken Wienzeile zwischen Anschützgasse und Jheringgasse sowie auf der Linzer Straße, hinter dem Technischen Museum

– eine Novelle des Wiener Prostitutionsgesetzes

– mehr Polizeikontrollen

– eine Vergleichsstudie, die die Gesetze in Österreich, den Niederlanden und Schweden analysiert

– bessere Aufklärung über Frauenhandel, um die Frauen intensiver über ihre Rechte zu informieren

– mehr Sozialarbeit

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  • Sehr geehrte, liebe Ingrid Brodnig,

    mir hat Ihr professioneller sympathisch vermittelter Beitrag im Interview mit Wolfgang Ritschl, Ö1, Kontext, außerordentlich gut gefallen. Ich werde darüber ein Posting auf sozialprojekte.com stellen und meine Kolleginnen bei bpw.at davor informieren. Und die KollegInnen im Kepler Salon Linz http://www.kepler-salon.at

    Und jetzt geh' ich Ihr Buch kaufen :-)
    Herzliche Gratulation!
    Heidemarie Penz

    • Das freut mich sehr, vielen Dank! Ich muss Sie vorwarnen: Das Buch ist erst ab kommenden Montag im Handel, aber online kann man es bereits vorbestellen. Zum Beispiel hier. Ich bin natürlich immer sehr an Feedback interessiert!

    • Sehr geehrte Frau Brodnig!

      Danke für Ihre heutige kompetente Stellungnahme in der ZIB2!

      Mit besten Grüßen
      Kurt Pecher

  • Herzlichen Dank für diesen mehr als lesenswerten Text, den ich dann auch gleich mal weiterverbreitet habe. Sie sprechen mir aus tiefstem Herz und geben genau meine Überzeugung und Gedanken wider. Ich war ebenfalls mit dem Text von Nico Lumma einer Meinung, aber mit Ihren Zeilen ... als seien es meine Gedanken. Nur, dass ich sie nicht so gut in Worte packen kann.

    Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende wünscht Sabine

    • Super, danke für den Hinweis! Finde das eine gute Medienstrategie, das Problem öffentlich zu thematisieren und damit die Antifeministen auch bloßzustellen

  • hallo ingrid brodnig!

    ich habe aufgrund einer empfehlung ihr buch gelesen, und wollte mich auf diesem weg bei ihnen dafür bedanken. es öffnet in dieser debatte die eine oder andere türe und regt in vielen punkten zum nachdenken an.

    ich möchte auf einen punkt eingehen, der mir, nachdem ich das buch zugeklappt habe, gekommen ist, und den ich für nicht unwichtig halte, der jedoch in ihrem buch nicht berücksichtigung findet (vielleicht auch finden konnte, denn durchaus möglich, dass er den rahmen ihres buches gesprengt hätte. (und jetzt auch nicht als negative kritik zu verstehen)).

    es geht um die fehlende achtsamkeit bzw. fehlende verantwortung bzw. den fehlenden respekt gegenüber anderen AUSSERHALB der online-welt. und da spreche ich nicht nur von rassistischen, geschlechterspezifischen oder ähnlichen (miß)tönen, oder von der generellen radikalisierung der sprache, sondern auch von so einfachen situationen, wie einem fehlenden "danke sagen", wenn einem die türe aufgehalten wird. da hat sich in den letzten jahrzehnten leider vieles zum schlechten gewendet (stichwort: elbogengesellschaft oder ich-ag).

    ich denke mir, dass diese "verrohung des zueinanders" (man könnte auch von einer erneuten militarisierung der gesellschaft sprechen) eine wesentliche vorbereitung dessen ist, was - wie sie dann richtig beschreiben - zu den bösartigkeiten in der netzcommunity beiträgt bzw. einladet. in folge können diese online-enthemmungen natürlich auch wiederum in den realen alltag eingehen. ein wechselspiel in folge.

    die anonymität (das fehlen von augenkontakt, wie sie es sehr schön genannt haben) wirkt dann beinahe wie das lang gesuchte hilfsmittel, um endgültig alle schranken fallen lassen zu können.

    zu thematisieren wäre in diesem zusammenhang auch die verwendung der "smilie-ikons". ich finde, sie bringen ein wenig den "augenkontakt" zurück.

    wenn ich jetzt und hier ein pseudonym benutze - das meinem nickname im standard.at forum entspricht - so ist es meinerseits ein kleines spiel ;- )
    (ich habe im übrigen bei meinem posten festgestellt, dass es manchmal schon genügt, wenn ich ein direktes hallo und den angesprochenen usernamen bzw. eine verabschiedung (zb. mfg) schreibe, dass sich dann in folge der ton zum positiven verändert hat - eine kleinigkeit zwar, aber mit durchaus großer wirkung)

    auf jeden fall kann auch ich ihr buch sehr empfehlen ... und werde es auch tun.
    ich verbleibe mit freundlichen grüßen
    behan

  • Ganz auch meine Meinung! Könnte man "shitstorm" nicht aus der Welt schaffen und durch was anderes ersetzen? Mir graust davor.
    LG RG

  • Bei der Vorratsdatenspeicherung kann der Bürger wenigstens aufrüsten. Zum Beispiel mithilfe eines VPN Dienstes. Darum bin ich der Meinung das der Windmühlenkampf zwecklos ist. Eine technologische Aufrüstung wäre sinnvoller, besonders im Zeitalter des Informationszeitalters. Heute kauft jeder ein Auto mit Sicherheitsgurt. Aber Internet ohne VPN...

  • Danke für den Workshop und die Folien dazu.

    Als Ergänzung: "Krautreporter" will mit diesem Konzept starten:

    "Finanzieren wollen sich die Macher über eine Art Community - für 60 Euro im Jahr dürfen Leser kommentieren, zudem seien Begegnungen mit den Autoren oder Stadtführungen für die zahlenden Mitglieder denkbar. " -> http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/krautreporter-will-portal-fuer-qualitaetsjournalismus-werden-a-968688.html

    Einerseits verringert es die angesprochene Schwelle Journalist / Leser, andererseits wird die Hürde für einen Kommentar erhöht, weil zuerst bezahlt werden muss. Eine Art von Freemium. Lesen ist gratis, mitmachen kostet.

    • Danke für den Link, bin sehr gespannt, was das Team von Krautreporter am Dienstag vorstellen wird! Denke auch, dass in allen künftigen Onlinemedien, hinter denen ein Bezahlmodell steht, der Umgang mit der Community - und zwar auf Augenhöhe - umso wichtiger wird

  • Liebe Ingrid,

    danke für die spannende Session und anschließende Diskussion - sehr interessantes, wichtiges Thema! Hier der Link zu unserem Forschungsprojekt, über das wir anschließend kurz sprachen.
    Und hier hat mein Kollege Julius Reimer darüber im EJO einen Gastbeitrag geschrieben.
    Herzliche Grüße, freue mich schon auf die Buchlektüre,
    Nele

    • Liebe Nele,

      super, danke dir für die Links! Klingt echt spannend, was ihr macht - muss ich mir gleich näher ansehen. Eventuell kann ich ja in einem der nächsten Blogeinträge darauf eingehen. Jedenfalls toll, wie die re:publica Menschen zusammenbringt, die sich mit einem Thema beschäftigen!

      Schönen Gruß,
      Ingrid

  • Vollste Zustimmung! Ich hab's nicht geschafft, in meinem Beitrag ernst zu bleiben.

    • Danke für den Hinweis - und die freundlichen Worte im Blogeintrag! Ich versuche ja, möglichst auf Häme zu verzichten, weil ich viele Bedenken der Kritiker teile. Mir behagt der Ton vielerorts auch nicht. Aber es ist halt sehr schade, dass dann prompt der Satz "weg mit der Anonymität" fällt, eine substanziellere Auseinandersetzung mit dem Thema jedoch nicht passiert. Aber vielleicht ändert sich das noch!

      • Ja, ich weiß genau, was du meinst - ich war bei dem Thema auch skeptisch. Aber es hat mich so in den Fingern gejuckt... und letztendlich hat dann dein Beitrag den Auschlag gegeben; dass ich mir sozusagen die Satire erlauben kann mit Verweis auf deinen Beitrag :-)

        Und es ist ja so typisch .at, dass der Woiferl gleich aufs Thema springt. Ich frag mich eher, warum Oe24 Startseitenartikel so wenig Likes bekommen.

        • Ich bin sehr gespannt, wie Fellner bis Juni die Seite auf Klarnamen umstellen will und wie er das genau machen möchte. Das ist verdammt wenig Zeit und führt zu etlichen technischen Fragen. Entweder heißt das ein Einloggen via Facebook oder eine Art redaktionelle Kontrolle, ob die Namen zumindest halbwegs echt klingen.

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