Reißt unsere Schulen ab!
Tafel, Glocke, Klassenbuch: Über unserer Schule liegt der Mief der autoritären Vergangenheit. Dabei gibt es längst neue Ideen
Inspektion: Ingrid Brodnig und Sibylle Hamann
1774 führte Maria Theresia die „Allgemeine Schulordnung“ und mit ihr die Schulpflicht ein. Damals wurde der Unterricht stark vom Militär und dessen Disziplinvorstellungen geprägt. Gehorsam war das oberste Bildungsziel. Mit dem industriellen Zeitalter setzten sich, ausgehend von Großbritannien, neue Prioritäten durch: Die Schule sollte möglichst viele berechenbar funktionierende Arbeitskräfte mit normierten Fähigkeiten hervorbringen, perfekt für das Fließband.
In der „globalisierten Wissensgesellschaft“, von der alle reden, sind diese Bildungsziele eigentlich obsolet. Eine postindustrielle Arbeitswelt braucht kein homogenes Arbeiterheer mehr. Eine Einwanderungsgesellschaft muss mit Vielfalt produktiv umgehen. Sie kann es sich nicht leisten, Kinder, die nicht gleich ins System passen, auszusortieren und auszuspucken. Innovationen kann sie nur hervorbringen, wenn sie Individualität, Selbstverantwortung und Überraschungen zulässt.
Dafür braucht es andere Lehrinhalte, andere Unterrichtsmethoden, eine andere Lehrerausbildung und andere Schulgebäude.
In den Volksschulen, den einzigen echten Gesamtschulen in Österreich, hat dieses Umdenken in den letzten Jahren bereits stattgefunden. In den Kindergärten ist einiges in Bewegung, ebenso in den neuen Mittelschulen. Ein Erwachsener, der eine typische AHS betritt, wird sich jedoch wundern, wie wenig sich dort seit der eigenen Schulzeit verändert hat. Schulglocke, Klassenbuch, Jahrgangsklassen, all das findet sich dort. Die Gymnasien, samt ihrer Lehrergewerkschaft, verteidigen sinnentleerte Rituale und Gewohnheiten, als regiere immer noch der Kaiser in der Hofburg.
Wer sich bewusst wird, wie viel Vergangenheit in der Gegenwart der Schule steckt, versteht: Es ginge auch ganz anders. Eine Übersicht.
Einst war das Schulgebäude das Wohnhaus des Lehrers und seiner Frau. Heute ist es das Haus, in dem der Unterricht stattfindet, und anschließend fahren alle heim.
Doch das muss nicht so sein. Schule kann auch hinausgehen: in Bibliotheken, Betriebe, auf Ämter und in die Natur; nicht nur gelegentlich bei Exkursionen, sondern systematisch. Die Walz zum Beispiel, ein privates Wiener Oberstufengymnasium, macht Biologie auf dem Bauernhof und fährt zum Sprachenlernen ins Ausland.
Heutige Schulgebäude schotten sich nach außen ab; oft sind sie sogar Fremdkörper in ihrer Umgebung. Besonders problematisch ist das bei den großen Schulgebäuden der 70er-Jahre. Sie wurden für mehrere tausend Schüler und Schülerinnen konzipiert, an der Peripherie gebaut, nur dort gab es für sie Platz. Heute ereilt diese Großschulen ein ähnliches Schicksal wie Einkaufszentren: Sie sind nicht mit der Stadt verwachsen und vom öffentlichen Verkehr abgeschnitten. Die Zukunft liegt in kleineren, überschaubaren Einheiten, die auf ihre Umgebung reagieren und sie mit öffentlichen Angeboten für Nichtschüler bereichern. „Breite Schule“ heißt etwa ein Modell in den Niederlanden, das Schulen räumlich mit Bibliotheken, öffentlicher Verwaltung oder mit Wohnungen kombiniert.
Die Wiener Standardschulklasse misst heute – wie zur Kaiserzeit – 63 Quadratmeter. „Man rechnete einen Quadratmeter pro Kopf, anderthalb Quadratmeter für den Lehrer und weitere anderthalb für den Ofen“, erklärt Christian Kühn, Architekt an der TU Wien. Heute sitzen zwar statt 60 nur noch 25 Kinder drin, viele Möglichkeiten bietet sie jedoch nicht.
In Dänemark gibt es Schulen, die ganz ohne Klassenräume auskommen. Jeweils drei bis vier Klassen teilen sich dort eine „Lernzone“, diese besteht aus verschieden aufgestellten Tischen, PC-Arbeitsplätzen, Sitzecken und Rückzugsräumen, jeweils einer offenen Küche und einem Lehrerarbeitsraum.
Als „Homebase“ der jeweiligen Klassen dienen sechseckige Bereiche, die mit Paravents von der Lernzone abgeschirmt werden. Hier drin können sich bis zu 20 Kinder plus Lehrende für kurze, intensive Phasen des Zuhörens versammeln.
Das zentrale Nervensystem des österreichischen Schulgebäudes ist absurderweise der Gang, an dem entlang die Klassenzimmer aufgereiht sind, ähnlich wie in einer Kaserne. Das ist eine enorme Platzverschwendung: 30 bis 40 Prozent der Gesamtfläche sind dadurch als Verkehrsflächen blockiert und können nicht produktiv genützt werden. Denn ein Gang (samt „Gangaufsicht“) eignet sich beinahe ausschließlich dafür, sich zu langweilen oder Lärm zu machen.
Eine Schule, die sich von Gängen verabschiedet, kommt mit fünf Prozent Verkehrsflächen aus. Der gewonnene Platz stünde für Bewegungs-, Spiel-, Lese-, Rückzugs- oder Essräume zur Verfügung. Das Problem: Viele Schulgebäude in Österreich stammen aus dem 19. Jahrhundert und lassen sich nur schwer radikal umbauen. Mit jeder der vielen Schulrenovierungen, die derzeit stattfinden, wird das „Gang“-Prinzip auf Jahre hinaus einbetoniert.
In der ersten Klasse sitzen die Sechsjährigen, in der zweiten die Siebenjährigen: Das scheint uns selbstverständlich. Aber es war nicht immer so. Erst das Reichsvolksschulgesetz von 1869 teilte die Kinder nach Alter auf. „Das hat man dem Militär nachempfunden“, sagt Bildungsexperte Bernd Schilcher; die schulpflichtigen Kinder treten, ebenso wie die wehrpflichtigen Rekruten, ihren Dienst im Herbst an.
Vor 1869 hingegen ging man davon aus, dass nicht alle denselben Reifegrad hätten. Deswegen saßen Kinder unterschiedlichen Alters in einem Raum und lernten, je nach Fach, in verschiedenen Gruppen miteinander. Zu dieser Idee finden moderne Mehrstufenklassen heute zurück: Jedes Kind lernt hier in seinem eigenen Tempo, einzeln oder in Kleingruppen. Begabungen können individueller gefördert werden. In einigen Wiener Volksschulen wird dieses Modell heute mit großem Erfolg praktiziert.
Zentraler Baustein unseres Schulwesens ist die 50-Minuten-Stunde: Auf ihr bauen alle Stundenpläne auf, in ihrem Takt wechseln die Lehrer die Klassen. Warum eigentlich? Auch dies kommt vom Militär, bei dem jeweils eine Stunde lang exerziert wurde, zehn Minuten davon wurden fürs Austreten und Pfeiferauchen abgezogen.
Pädagogisch mache das keinen Sinn, meint Bildungsforscherin Christa Koenne, speziell in naturwissenschaftlichen Fächern: „50 Minuten sind nicht der Rhythmus, in dem man neugierig wird. Man muss in ein Thema versinken können, damit Interesse entsteht.“ Sie schlägt längere Lernphasen vor: ein Drittel des Schuljahrs etwa für Naturwissenschaften, das zweite Drittel für Kultur, das dritte zum Wiederholen des Gelernten. Nur was regelmäßiges Üben erfordert (Rechnen, Turnen), solle wöchentlich stattfinden.
Der 50-Minuten-Takt braucht ein akustisches Signal. „Die Schulglocke kommt von der Trillerpfeife“, sagt Bernd Schilcher. In den meisten Volksschulen läutet die Glocke heute gar nicht mehr oder nur, um große Pausen anzuzeigen. Solange dieselbe Lehrerin in der Klasse steht, kann sie auf Stimmungen und Konzentrationsphasen flexibel reagieren und den Stundenplan völlig ignorieren. An den AHS hingegen, wo alle 50 Minuten die Lehrperson wechselt, müsste man ohne Schulglocke das ganze System umstellen.
Als Maria Theresia die Schulpflicht einführte, waren die Schulen plötzlich voll. 120 Kinder steckte man in eine Klasse. Ungefähr gleich groß ist eine Kompanie. Wie auf dem Kasernenhof reduzierte sich der Unterricht dann aufs Fehlersuchen. Wer einen Tintenklecks, einen Rechenfehler, einen falschen Ton machte, den wies der Lehrer zurecht. Der Stoff wurde in Tabellenform niedergeschrieben, in kleine Portionen aufgeteilt. Die wurden solange widergekäut, bis die meisten Schüler sie beherrschten.
Der österreichische Unterricht ist von diesem Denken noch immer geprägt. Dem „Sachwissen“ wird viel Bedeutung beigemessen, während Länder wie Finnland mehr darauf achten, Kompetenzen zu vermitteln; die Fähigkeit, sich Sachwissen selbstständig anzueignen.
Das Wort „Taferlklassler“ erinnert an die kleine Schiefertafel, die jedes Volksschulkind einst zum Schreiben mit dem Griffel verwendete. Die große Tafel, die an der Stirnseite des Normklassenzimmers steht, wurde um 1800 in Schottland erfunden und ist heute an der Wand festgeschraubt. Damit nagelt sie die Kinder an ihren Plätzen fest und bestimmt ihre Blickrichtung für den Frontalunterricht.
Modellschulen in den 60er-Jahren versuchten, diese Starrheit mit mobilen Tafeln aufzubrechen, die auf Rollen im Raum umhergeschoben werden konnten. „Dann fiel eine Rolltafel einem Kind auf den Kopf, und es war mit der Tafelmobilität vorbei“, sagt Kühn.
Heute kommt statt Kreide und Tafel oft ein Beamer oder Smartboard zum Einsatz. Am Prinzip des Frontalunterrichts ändert das nichts.
Im 17. Jahrhundert hatten Schulkinder noch keine fixen Plätze. Im Raum standen Tische, in der Mitte an einem Pult saß der Lehrer. Lange waren Einzelbänke üblich, die man verrücken konnte. Die normierten Zweierschulbänke sind ein typisches Produkt des 19. Jahrhunderts. Ihre wichtigste Eigenschaft war, dass sie das Bodenwischen erleichterten.
Orthopäden haben seither viel Energie in die Optimierung von Schulbänken gesteckt. Die Kinder sollten sechs Stunden lang sitzen können, ohne Fehlhaltungen davonzutragen. „Wir müssen das Sitzen den Arbeitsmedizinern entziehen“, fordert allerdings Christian Kühn. Denn Haltungsschäden vermeidet man am besten, indem man das stundenlange Sitzen ganz abschafft – und stattdessen am Boden, im Liegen, im Stehen, in Bewegung oder sonst wie lernt.
145 Jahre lang war in Österreich die Ganztagsschule normal. 1919 tauschte sie der rote Bildungsreformer Otto Glöckel durch die Halbtagsschule aus. Das war ein Kompromiss zwischen der bürgerlichen und der linken Reichshälfte: Das Bürgertum wollte, dass der Nachwuchs nachmittags für standesgemäße Exerzitien wie Musik oder Sport frei war.
Die Halbtagsschule hat viel mit dem Familienideal zu tun. Kinder mittags nachhause zu schicken macht dann Sinn, wenn dort eine Hausfrau mit dem Essen auf sie wartet und mit ihnen Aufgaben macht. Je gebildeter und wohlhabender diese Hausfrau ist, desto größer ist der Bildungsvorsprung, den Kinder erwerben können. So verstärkt die Halbtagsschule die sozialen Unterschiede und hält gleichzeitig Mütter vom Arbeitsmarkt fern.
Eine moderne Gesellschaft könne sich diesen Anachronismus eigentlich nicht leisten, meint Bernd Schilcher. Die 140 Millionen Euro, die jedes Jahr für Nachhilfe ausgegeben werden, beweisen, dass das System nicht funktioniert. In fast allen OECD-Staaten ist längst die Ganztagsschule, samt Essen, Sport, Musik und Förderkursen, normal. Dafür jedoch braucht man andere Schulgebäude.
Die Aufteilung des Schuljahrs folgt vielen Interessen – jenen der Schüler und Schülerinnen allerdings am allerwenigsten. Die Weihnachts- und Osterferien verdanken wir der Kirche, die Semesterferien der Skiindustrie und die Sommerferien der Landwirtschaft. Zur Kaiserzeit begann der Unterricht nach der Ernte, Anfang November, und endete zu Michaelis am 29. September. Dazwischen halfen die Kinder den Eltern bei der Feldarbeit. Zusätzlich sperrten die Schulen im Sommer zu, wenn es zu heiß wurde.
Heute sind wir nicht mehr so abhängig vom Wetter, doch die langen Ferien sind geblieben. Berufstätige Eltern stellt das vor gewaltige organisatorische Probleme, während in den leeren Schulgebäuden Sportanlagen, Chemielabors und alle anderen Ressourcen ungenutzt bleiben.
Joseph II. führte das „Buch der Schande“ ein, das wir heute als Klassenbuch kennen. Es diente nicht nur zur Disziplinierung schlimmer Kinder, sondern auch zur Verhöhnung schlechterer Schüler, deren Fehler eingetragen wurden.
In seiner äußeren Form hat sich das Klassenbuch in 200 Jahren praktisch nicht verändert. Vorne wird die Anwesenheit samt Entschuldigungen protokolliert, hinten der Lehrstoff. „Es ist ein altmodisches Instrument, das der Kontrolle dient. Auf große Teile davon kann man verzichten“, urteilt AHS-Direktorin Heidi Schrodt. In ihrer Schule, der Rahlgasse, gibt es ab der sechsten Klasse, nach dem Ende der Schulpflicht, kein Klassenbuch mehr: Die Schüler und Schülerinnen können über ihre Absenzen selbst verfügen. Wer in einem Fach mehr als 20 Prozent fehlt, muss eine Feststellungsprüfung machen. Die Absenzen sind seither deutlich zurückgegangen.
Das Lehrerzimmer ist für Schüler ein geheimer Ort, den sie kaum je betreten. „Es ist Ausdruck dessen, woran das ganze System krankt“, sagt Direktorin Schrodt, „es ist ein Rückzugsraum, wo man sich vor den Schülern schützen kann.“ Zum Arbeiten taugt das Lehrerzimmer kaum. 1,40 Meter lang ist die Arbeitsfläche, die sich zwei Lehrende teilen müssen; unter Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) wurde auch noch die dazugehörige Lade eingespart. Mehr Fläche ist auch bei Neubauten nicht vorgesehen.
Ein „richtiger“ Lehrerarbeitsplatz müss te technisch besser ausgestattet sein, er müsste Raum für Besprechungen und für Rückzug bieten. Gekämpft hat die AHS-Lehrergewerkschaft jedoch nie wirklich dafür, weil die wenigsten Lehrer ihren Tag in der Schule verbringen wollen. Traditionell verstehen sie das Klassenzimmer und die eigene Wohnung als ihren Arbeitsplatz, im Lehrerzimmer wollen sie nur Hefte ablegen.
Dass neben dem Bild des Bundespräsidenten ein Kreuz hängt, liegt an einem Vertrag zwischen Österreich und dem Vatikan, „Schul-Konkordat“ genannt. 1962 vereinbarten die beiden Staaten, dass „in jeder Schulklasse, in der die Mehrzahl der Schüler ein christliches Religionsbekenntnis hat“, ein Kreuz zu hängen hat. Der Vertrag steht im Verfassungsrang und kann ohne Zustimmung des Heiligen Stuhls nicht geändert werden.
Da längst nicht mehr alle Klassen christliche Mehrheiten haben, könnten viele Kreuze heute eigentlich abgehängt werden. Zumal das Konkordat anderen Verfassungsprinzipien widerspricht – etwa der Trennung von Staat und Kirche. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte jüngst, die Kreuze in italienischen Schulen verstoßen gegen das Gebot der Religionsfreiheit, der Staat müsse auch „die Freiheit jener schützen, die sich zu keiner Religion bekennen wollen“.
Lange gehörten „Leibesübungen“ nicht in die Schule; nur Ritter wurden in Fechten und Tanzen ausgebildet. Die Turngeräte, die heute in jedem Turnsaal stehen, Kasten, Reck, Ringe oder Schwebebalken, gibt es seit 1811. Erfunden hat sie der Berliner Hilfslehrer Friedrich Ludwig Jahn, später als „Turnvater“ bekannt. Er sah in der körperlichen Ertüchtigung die Vorstufe der militärischen Ausbildung und wollte die Preußen damit für den Befreiungskrieg gegen die Franzosen stärken. 1813 nahm Jahn mit seinen Turnern an der Völkerschlacht bei Leipzig teil, man trug (mit Österreich an der Seite) den Sieg davon.
Der gefürchtete Medizinball, der ebenfalls zur Standardausstattung des Turnsaals gehört, stammt aus den USA. Er dient, wie eine Hantel, zum Muskelaufbau und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der Turner- und FKK-Bewegung nach Deutschland importiert. In einer modernen Schule könnte er zwischendurch die Schulbank ersetzen.
Zum Thema
„Fliegende Klassenzimmer. Eine interaktive Ausstellung über Orte zum Wachsen für alle von 6 bis 99 Jahren“. Diese Ausstellung beflügelt die Schulfantasie und ist bis 21. Februar 2010 im Kunsthaus Mürz in Mürzzuschlag zu sehen. Idee, Konzept und Gestaltung: Christian Kühn, Renate Stufer, Antje Lehn. Öffnungszeiten: Do–Sa 10–18, So 10–16 Uhr
Dieser Artikel ist im Falter 51/09 erschienen und wurde von Sibylle Hamann und mir verfasst. Illustrationen: Frauke Lehn
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Es scheint doch eine ähnliche Situation wie in einer realen Gruppe zu bestehen: wenn jemand sagt "Leitln DER Ton muss aber net sein", bewirkt es allein noch keine Änderung, wenn es mehrere werden, wirkts dann doch.
Aber die Inhaber tun so, als wären sie vollkommen machtlos dem Gerülpse ausgeliefert. Herzlichen Dank für den "Weckruf".
Ich glaube, dass viele Menschen (mich eingeschlossen!) oftmals den Fehler machen, sich von der Unmittelbarkeit und der Synchronität des Internets bzw. von Online-Medien dazu hinreißen zu lassen, Gedanken aus einer ersten Emotion heraus ungefiltert und unüberlegt preiszugeben (das mag auf den ersten Blick ein klassisches "Henne-Ei-Problem" sein - das es das nicht ist, versuche ich ganz unten zu argumentieren).
Neben der Diskussion darüber, wie wir mit der Anonymität im Netz umgehen, brauchen wir, wie Sie völlig richtig schreiben, eine Diskussion darüber, wie Menschen dazu gebracht werden können, konstruktiv-kritsche Postings zu verfassen, ohne beleidigend zu werden und einen Diskurs darüber, welche Rolle die Medien in diesem Prozess spielen (wollen).
Noch viel stärker, und das ist wahrlich kein Thema der sozialen Medien alleine, müssen wir uns jedoch vergegenwärtigen, dass jeder Mensch (zumindest jeder geistig und körperlich gesunde) für sein eigenes Handeln und Tun selbst verantwortlich ist und sich die Konsequenzen daraus stets gefallen lassen muss. Selbst wenn der KI Kants alleine hier zu kurz greift, erscheint mir der philosophische Diskurs darüber aktueller denn je.
Autonomie und Freiheit, die wahrscheinlich größten Errungenschaften unserer westlichen Welt, entbinden (gerade deshalb!) nicht von individueller Verantwortung für die Gesellschaft. Die Abschaffung der Anonymität im Netz würde wahrscheinlich einen kleinen Beitrag zu weniger Shitstorms leisten - einen entscheidenden Schritt weiterbringen würde sie die Gesellschaft respektive Gesellschaften, offline, wie online, allerdings nicht.
Danke, sehr gut gesagt. Ich glaube, wir müssen online Umgangsformen und auch technische Sicherheitsmechanismen entwickeln, die diese individuelle Verantwortung für die Gesellschaft fördern. Es ist aber nicht so, als gäbe es keine Ideen. Das Spannende ist sogar, dass sich derzeit sehr viel tut. Österreich ist nicht das einzige Land, wo genau das diskutiert wird, und vielerorts gibt es spannende Ansätze - siehe auch die Links oben zu den Lösungsansätzen. Ich habe Gefühl, dass dies immer mehr Menschen bewusst wird und auch bewusst wird, dass es hier nicht allein um die Anonymität geht.
ich möchte nur anmerken, dass nicht jeder klarname in facebook dem wirklichen namen des dahinterstehend users entspricht. und die foruminternet explosion 4chan hat schon bewiesen, dass anonymität derbe konsequenzen mit sich bringen kann.
lg,
acjsvgcyhnsakux
Jö, endlich trifft man dich mal wieder! Lieber acjsvgcyhnsakux, ich dachte schon, du hättest dich völlig in die Untiefen des IRC zurückgezogen.
Absolut, vor allem so ein radikales Anonymitätsmodell wie jenes auf 4Chan führt dazu, dass viele User noch enthemmter sind. Das sieht man dort sehr deutlich. Ich warne nur davor, die Anonymität als einzigen Grund für die Enthemmung im Netz zu sehen.
Dass sich manche Lobbyisten für Klarnamen einsetzen, ist nicht verwunderlich. Schließlich geht es dabei auch um WhistleblowerInnen, welche anonym bleiben wollen. Und nichts scheuen manche Lobbyisten mehr als WhistlebloweInnen.
Die Frage ist auch, WARUM sich Rosam für Klarnamen einsetzt. Als Gutmensch ist er ja gerade nicht bekannt oder irre ich mich da?
Warum er das macht, kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Hier zwei interessante Artikel zu Wolfgang Rosam:
http://www.datum.at/artikel/das-meinungskartell/
http://www.datum.at/artikel/der-wolfgang-der-nicht-schweigt/
Was ich noch hinzfügen möchte:
Der Ton wird auch dadurch verschärft, dass man nix zurücknehmen kann, wenn man einfach loslegt. Die Aufzeichnug bleibt sichtbar.
Es gibt keine Editierfunktionen. Bleibt nur eine Entschuldigung, die man anfügt.
Dass keiner der Poster die Frau Brodnig anschrieb geantwortet hat, heißt womöglich, dass den Leuten im Nachhinein nicht ganz wohl zu Mute war.
Gehört am Rande zum Thema:
Das Recht auf Vergessen für alle Foren einforderbar machen ?
Nach ~3 Jahren soll auf Aufforderung gelöscht werden müssen.
Es gibt Für und Wider.
Wäre womöglich bei Sach-Foren schade.
Ich stolpere manchmal über Sachbeiträge von 2006 !
Der Link zu newstatesman funktioniert leider nicht mehr.
Sorry, der Link war falsch. Jetzt sollte es passen. Danke für Hinweis!
Ich find ihre Reaktion grundsätzlich gut. Sie tritt für ihre Meinung ein. Aber: Peinlicherweise ist ihr Text in Interpunktion und Rechtschreibung nicht korrekt. Und das als Unterrichtsministerin. Sorry, aber das find ich doch etwas peinlich. Man kann über die Bundeshymne denken, wie man will, aber sie hätte es besser machen können. Hätte Frau Heimisch-Hosek es besser machen müssen? Naja… Als Unterrichtsministerin???
Inwiefern ist denn die Interpunktion und Rechtschreibung falsch? Weil "vielgerühmtes" groß geschrieben ist? Ich muss gestehen, mir fiel da gar kein Fehler auf, aber natürlich ist das ein bisserl peinlich für die Unterrichtsministerin. Ob man deswegen einen Shitstorm und so viel Aggression verdient? Wohl eher nicht. Aber ich vermute, da sind wir eh einer Meinung..
Natürlich ist es peinlich, aber meiner Meinung nach ist das nicht der Grund des Shitstorms. Die Ministerin hat in ihren Ressorts bis heute absolut nichts weitergebracht. Ganz im Gegenteil: ein ständiges Buckelmachen vor Gewerkschaften und Beamten kennzeichnet ihre Tätigkeit. Und dann stellt sie sich als Oberlehrerin mit einem Tafel zum unwichtigsten Thema hin? Ich verurteile diese Art des Shitstorms, aber auch ich empfinde das als präpotent und abgehoben. Wie sie sicherlich wissen hat diese Ministerien erst vor kurzem eine Genossin vom Rednerpult verwiesen., weil ihr der Inhalt nicht gepasst hat. Wer derart austeilt, muss letztendlich auch einstecken. Oder vielleicht endlich bei wichtigen Themen etwas weiterbringen. So wie die gesamte Regierung überhaupt.
Dass viele enttäuscht sind, weil im Bildungsbereich keine Reformen kommen, glaub ich sofort. Bin mir nur ehrlich gesagt nicht sicher, ob die Wut gegenüber Heinisch-Hosek tatsächlich aufgrund der fehlenden Reformen in ihrem wichtigen Ressort entspringt oder sie da generell der Blitzableiter für die diffuse Wut gegenüber der Regierung ist - womöglich eine Mischung. Hinzu kommt auch noch die ganze Heimatsdebatte, für die die Hymne ein Synonym ist. Bernhard Schindler hat dazu gut gebloggt, siehe http://bernhardschindler.net/hymnen-debatte/
Danke für den Hinweis auf die Szene, in der die Ministerin die junge Genossin zurechtweist! Hier nochmal das Video https://www.youtube.com/watch?v=G-tZR4YH6j8 - ich muss bei diesen Ton immer an die eigene Schulzeit denken. Wirkt echt sehr lehrerhaft!
Ich bin mir sogar sicher, dass diese Wut an die gesamte Regierung gerichtet ist. Und wenn sich wieder nur irgendwie ein kleines Ventil öffnet, wird diese Wut wieder ausbrechen. Trotzdem bin ich mir auch sicher, dass sich der Großteil denkt "Gibt es wirklich nichts Wichtigeres?" Aber genau so arbeitet die Regierung; ablenken wo es nur möglich ist.
Danke übrigens für den Link. Habe mir das schon seit längerem nicht mehr angesehen, GENIAL bleibt der Satz: "..und wie demokratisch wir sind zeigt sich darin, dass wir auch Gäste reden lassen; ich werde mir das noch einmal in den Statuten genau ansehen..."
"... weil im Bildungsbereich keine Reformen kommen" finde ich lieb. Die Grundsatzdebatte (Gesamtschule) wird zwischen ÖVP und SPÖ seit den 1920-er Jahren (!) diskutiert. Ergebnis nach fast hundert Jahen: Nahezu null.
Zweiter Gesichtspunkt: Wenn eine Ministerin ihre Zeit dafür verwendet, andere Menschen "zurechtzuweisen", dann ergibt sich die Frage, ob Sie ihre Prioritäten richtig setzt. Gerade in ihrem Gebiet.
Dritter Gesichtspunkt: Welche Art von Öffentlichkeitsarbeit wird denn in diesem Ministerium gemacht? Hat da niemand ein Gespür dafür, was so ein Bild (Ministerin mit Zeigefinger auf die rot markierte Textstelle der Hymne) auslösen wird? Ich war entsetzt, als ich das Bild gesehen habe...
"Vielgerühmtes" ist deshalb groß geschrieben, da es sich hier um "Lyrics" bzw. ein Versmaß handelt, denke ich.
Ich denke auch, dass die Großschreibung hier im Zusammenhang damit steht, dass der Text der Hymne in Versform geschrieben ist. Diese Art der Schreibung ist mittlerweile etwas aus der Mode, daher wirkt sie wahrscheinlich auffällig.
Stimmt, gute Erklärung!
ich diskutiere nicht deshalb nicht mit, weil ich angst vor kritik hätte, sondern weil das niveau (oft) deratig tief ist, daß ich keine lust habe darauf zu antworten und es tlw. auch nicht möglich ist. was habe ich David R. mit sei´m “Halt doch s maul he”, schon zu sagen?
Mir wär spontan: "Sei ein Gentleman und geh' mit gutem Beispiel voran!" eingefallen.
Aber ja, wie heißt's so schön: Streite Dich nie mit Idioten. Die ziehen Dich auf ihr Niveau herunter und schlagen Dich dann mit Erfahrung…
Das Problem ist leider, dass genau durch diesen harten Ton oftmals jene Stimmen verstummen, die eben nachdenklicher oder etwas leiser wären. Und das führt mitunter dazu, dass man online meist jene hört, die hauptsächlich schreien. Ein Beispiel: Manche User posten in Zeitungsforen einmal, weil sie nur eine Sache zum Sagen haben, nur einen Gedanken beisteuern wollen. Manche posten hundert Mal, und weil in den meisten Foren der neueste Beitrag immer der oberste ist, sieht man zuerst diese lauten Stimmen - und die weniger lauten findet man mitunter gar nicht, weil sie erst an Stelle 371 im Forum (also total vergraben) sind
Imho wird in die Sache zu viel hineininterpretiert: Wir leben in einer Zeit, in der bestimmte Arbeitsgruppen immer mehr buckeln müssen, damit am Ende trotzdem weniger übrig bleibt. Die Menschen kochen innerlich und der Zorn wird eben abgelassen, wenn "die da oben" solche lächerlichen Aktionen abziehen, anstatt endlich mal richtige Brocken anzupacken. Und ja, sicher ist das ein Problem, allerdings nicht, wie es hier im Fazit erwähnt wird. Meine Sorge ist, dass sich die Shitstorms eines Tages (und ich rechne damit, dass das in sehr naher Zukunft sein wird) auf die Straße verlegen werden und wir Ukraine-ähnliche Zustände haben werden...
Muss gestehen, das glaube ich nicht. Erstens ist die Situation in der Ukraine kaum mit der unseren vergleichbar, auch wenn viele sicher unzufrieden sind. Und zweitens, glaube ich, sieht man da eine Wut, die es womöglich auch schon früher gab - nur wurde sie halt in kleineren Kreisen geäußert, am Stammtisch, beim Abendessen, im Büro. Die große Veränderung ist, dass das Netz all dies sichtbar macht. Und hinzu kommt, dass im Netz viele Schranken wegfallen, die dazu führen, dass sich Menschen eine Spur freundlicher verhalten. Also zum Beispiel der Augenkontakt oder unmittelbares Feedback von Menschen, die einem wichtig sind. Über dieses Thema schreibe ich sehr oft: https://www.brodnig.org/2014/05/14/wo-die-meinungsmutigen-irren/
Wie ich schon bei der Recherche zu meinem profil-Artikel zu Conchita Wurst erfahren habe, kommen (und kamen) auch hier die meisten antifeministschen Hasspostings aus der zweiten und dritten Generation Migranten (also inzwischen auch österr. Staatsbürger). Das stellt die Integration in Frage und derart die Integrationspoltik..
Danke für den Hinweis - war ein spannender Text im Profil, auch weil man sah, dass eben viele das tatsächlich unter ihrem Klarnamen posten. Bzgl. den Migranten: Bin mir nicht sicher, ob das auf die Antifeministen tatsächlich zutrifft, vielen haben typisch österreichisch klingende Namen. Dieser Streit um die Hymne ist zu einem gewissen Grad auch eine Debatte rund um den Heimatsbegriff, siehe auch: http://bernhardschindler.net/hymnen-debatte/
Aber zur Profil-Geschichte zurück: Das war sehr interessant, das ziemlich viele Österreicher zweiter Generation anscheinend Probleme mit Conchita Wurst hatten. Die Frage, inwiefern Homophobie tatsächlich in manchen Migrantengruppen stark verbreitet ist, ist also wohl berechtigt. Gerade bei solchen (schwierigen) Integrationsthemen findet die österreichische Politik leider keinen passenden Umgang. Dazu ein super Text aus der Wiener Zeitung: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/556468_Augen-zu-und-durch.html