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“Viele Bürger sind bereit, sich von Europa abzuwenden“

Wer zieht in Brüssel wirklich die Fäden? Und wie könnten Journalisten die EU besser erklären? Die Korrespondenten Raimund Löw und Cerstin Gammelin über ihr überaus aktuelles Buch

Die EU wirkt oft ziemlich undurchschaubar, den meisten Bürgern ist es ein Rätsel, wie dort Richtlinien entstehen oder große Eurorettungspakete geschnürt werden. Wer Brüssel verstehen und wissen will, welche Personen dort wirklich das Sagen haben, sollte das neue Buch der EU-Korrespondenten Raimund Löw (ORF) und Cerstin Gammelin (Süddeutsche Zeitung) lesen. Ein Gespräch über das wackelige Konstrukt namens EU und die schwierige Frage, wie man mehr Begeisterung für Europa auslösen könnte.

Falter: Frau Gammelin, Herr Löw, 68 Prozent der EU-Bürger fühlen sich nicht gut über die EU informiert. Warum nur?

Raimund Löw: An zu wenig Information kann es nicht liegen. Vielmehr glaube ich, dass es in großen Gemeinschaften schwierig ist, die Politik zu durchschauen. Für einen Amerikaner ist es nicht leicht zu verstehen, was in Washington abläuft. Bei der Europäischen Union ist das noch komplizierter: Die ist ein Zwitterding zwischen Bundesstaat und Staatenbund. Wir Österreicher glaubten auch lange, wir seien der Nabel der Welt. Jetzt kommen wir drauf: Wir sind nur acht Millionen von insgesamt 508 Millionen EU-Bürgern.

Manch einer fordert deswegen auch einen europäischen Sender, ähnlich der BBC, der eine europäische Öffentlichkeit schaffen soll.

Cerstin Gammelin: Ich bezweifle, dass das wirklich hilft. Es ist ganz normal, dass Bürger am liebsten das lesen, was um sie herum passiert, in ihrem Heimatort, ihrer Region. Ein Sender aus Brüssel hätte keine große Bedeutung für ihr Leben, warum sollte ausgerechnet der die Lösung sein?

In Ihrem Buch bekommt man den Eindruck, dass die EU auch selbst an diesem Desinteresse schuld ist. Die tägliche Pressekonferenz der EU-Kommission ist zum Beispiel absolut langweilig.

Löw: Zum Teil ist die Kommission selbst schuld, sie verliert sich in Details und greift nicht die großen europäischen Themen auf. Aber warum greift sie diese Themen nicht auf? Weil das die Nationalstaaten nicht wollen würden. Hinter der Kommission steht ein wackeliger Konsens zwischen 28 Staaten. Die Sprecher der Kommission haben zuallererst das Ziel, diesen Konsens bloß nicht zu stören, bloß niemanden in Wien, Budapest oder gar Berlin aufzuregen. Ganz anders als im Weißen Haus, dort sind die Pressebriefings echte Shows.

Wie ist das im Weißen Haus?

Löw: Der Sprecher von Barack Obama möchte seinen Präsidenten möglichst gut verkaufen. Die Sprecher in Brüssel wollen die Kommission hingegen schützen. Aber das liegt auch an den Machtverhältnissen: Hinter dem US-Präsidenten steckt Macht. Hinter der EU-Kommission dieser wackelige Konsens.

Wie könnte man trotzdem Interesse an der EU wecken?

Gammelin: Im Mai wird wieder das Europäische Parlament gewählt. Diesmal werden die Fraktionen europaweite Spitzenkandidaten haben, die dann durch alle Länder touren. Da werden wir sehen, ob eine europäische Öffentlichkeit überhaupt möglich ist, ob die Bürger in Deutschland, Griechenland oder Großbritannien zu solchen Auftritten überhaupt hinkommen und sich für die europäischen Kandidaten interessieren.

Löw: Die sollen dann auch im Fernsehen diskutieren. Der ORF will mit anderen öffentlich-rechtlichen Sendern eine gemeinsame TV-Konfrontation mit den Spitzenkandidaten machen. Darin würden unter anderem der Konservative Jean-Claude Juncker aus Luxemburg, der Sozialdemokrat Martin Schulz aus Deutschland und der Grieche Alexis Tsipras für die Linke 90 Minuten lang miteinander diskutieren. Das ist eine große Chance, wirft aber auch viele Fragen auf: In welcher Sprache findet das statt? Zeigen die Sender das wirklich? Schauen die Leute dann überhaupt zu?

Sie hoffen, dass sich während der Europawahl nun wieder mehr Staaten hinter die EU stellen. Aber wie wahrscheinlich ist das? Immerhin sind die Euroskeptiker im Aufwind.

Gammelin: Es ist durchaus möglich, dass die Spitzenkandidaten durch alle Länder touren und am Ende die Wahlbeteiligung doch nur bei 30 Prozent liegt. Dann sollten sich einige nationale Politiker Gedanken machen, ob der Status quo wirklich so klug ist: Man fährt nach Brüssel, beschließt hier etwas mit und sagt dann zu Hause, das hätten “die in Brüssel“ verzapft. Die euroskeptischen Tendenzen zeigen eindeutig, dass viele Bürger bereit sind, sich ganz von Europa abzuwenden. Da muss man sich auch einmal schützend vor die EU stellen.

In Ihrem Buch zitieren Sie streng vertrauliche Protokolle der EU-Gipfel, bei denen sich Staats- und Regierungschefs treffen. Haben Sie auch etwas Neues über diese Machthaber erfahren?

Gammelin: Die eine oder andere Eigenart haben wir mitbekommen. Der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy bestand zum Beispiel auf Nespresso-Kapseln. Oder wenn die Regierungschefs bis in die Nacht hinein verhandelten, aßen sie mitunter Gummibärchen. Wenn man zwölf bis 15 Stunden beisammensitzt, kommen auch die menschlichen Züge zum Vorschein.

Löw: Einige Anekdoten sind auch gänzlich unbekannt. Wir brachten etwa in Erfahrung, wie es wirklich zum Euroschutzschirm kam, warum in ihn ausgerechnet 440 Milliarden Euro fließen. Eine riesige Summe!

Gammelin: Ja, die Geschichte ist lustig. Die europäischen Finanzminister saßen da und überlegten: Wie viel Geld muss in so einen Schutzschirm hinein? Sie kamen auf 200 Milliarden Euro. Dann hieß es aber, den Deutschen ist sicher jede Zahl zu hoch, die wollen von jedem Vorschlag immer nur die Hälfte. Also hat man die 200 Milliarden auf 400 Milliarden verdoppelt und noch ein bisschen was draufgelegt. Dann schlug man den Deutschen 440 Milliarden Euro vor. Und zur Überraschung aller hat Berlin das abgenickt.

Löw: Nicolas Sarkozy wollte das im ersten Moment gar nicht glauben. Er hat extra die deutsche Kanzlerin Angela Merkel angerufen, ob die Summe eh stimmt.

Gammelin: Die Geschichte illustriert, wie ungeplant vieles passierte. Die Finanzminister hatten nicht Plan A, B oder C in der Schublade, sondern tasteten sich langsam voran.

Im Buch wird das sehr spannend erzählt. Vielleicht könnte man auf diese Weise das Interesse für Europa wecken: indem man die EU greifbarer macht.

Gammelin: Das Problem ist nur, so leicht kommen Sie nicht an diese Information heran. Die Gipfelprotokolle sind vertraulich. Auch findet man nicht immer gleich die entscheidende Quelle, die auspackt. Aber natürlich erscheint Europa mit solchen Geschichten menschlicher, einfach normaler.

Löw: Ich bin da skeptisch. Als Journalist will ich natürlich alles rauskriegen, was rauszukriegen ist. Aber ich verstehe, dass auch Staats- und Regierungschefs das Bedürfnis haben, vertraulich miteinander zu reden. Die sollen schon auch miteinander diskutieren können, ohne dass jedes einzelne Wort gleich in der Öffentlichkeit auf die Waagschale gelegt wird.

Sie zitieren im Buch auffällig viele Österreicher. Liegt das daran, dass Sie selbst Österreicher sind, Herr Löw? Oder sind die Österreicher tatsächlich so wichtig?

Gammelin: Eine verfängliche Frage.

Löw: Zugegeben: Ich interessiere mich vermutlich mehr dafür, was die Österreicher in der EU machen, als was die Bulgaren oder Iren machen. Nix gegen die Bulgaren oder Iren, aber ich glaube, es ist auch für unsere Leserinnen und Leser aus Österreich interessanter, was ein Alfred Gusenbauer oder Werner Faymann sagt.

Aber ganz so eine große Rolle spielt Österreich dann doch nicht?

Löw: Vermutlich nicht ganz.

Gammelin: Doch. Für die Österreicher spielt Österreich genau diese große Rolle.

Apropos deutsch-österreichisches Feingefühl: Warum hat Ihr Buch in Österreich einen anderen Titel als in Deutschland?

In Deutschland hat das Buch einen anderen Namen – der Inhalt ist der selbe

Gammelin: Die Deutschen kaufen gerne Bücher, auf denen das Wort “Strippenzieher“ steht. Damit haben wir schon gute Erfahrungen gemacht. Nun kam aber von österreichischer Seite der Einwand, dass die Österreicher das Wort “Strippenzieher“ nicht kennen, die sagen lieber “Drahtzieher“. Jedoch ist in Deutschland das Wort “Drahtzieher“ extrem negativ belegt. Von “Drahtziehern“ spricht man zum Beispiel nach einem Terroranschlag. Deswegen kam ein klassischer europäischer Kompromiss raus: In Deutschland heißt das Buch “Europas Strippenzieher“, in Österreich “Europas Drahtzieher“. Aber der Text ist derselbe.

Kein Wunder, dass die europäische Verständigung so schwerfällt.

Gammelin: Absolut! Raimund und ich haben dieselbe Muttersprache, und trotzdem brauchten wir für das Buch einen Kompromiss – stellen Sie sich nur vor, was das erst bei 28 Nationalstaaten bedeutet.

Haben Sie sonst noch etwas über uns Österreicher dazugelernt?

Gammelin: Viel, zum Beispiel das mit dem Schmäh. Wenn ich in Deutschland erkläre, ich verkaufe etwas mit Schmäh, dann klingt das abwertend – so als würde ich jemanden schmähen wollen. Aber für die Österreicher heißt das etwas Freundlicheres. Ich habe gelernt: Für die Österreicher ist Schmäh eine Melange aus Charme und Gewitztsein. F

 

Zu den Personen

Raimund Löw, geb. 1951, leitet das ORF-Büro in Brüssel, war in Moskau und Washington tätig und schreibt für den Falter regelmäßig Kolumnen

Cerstin Gammelin, geb. 1965, ist Europa-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung. Bevor sie nach Brüssel ging, berichtete sie für die Zeit aus Berlin

Das österreichische Buchcover trägt nicht nur einen anderen Titel, sondern ist auch anders illustriert. Hier sieht man die Gesichter der beiden Autoren

 

 

 

Dieses Interview erschien im Falter (Ausgabe 9/2014). Die obige Europa-Landkarte ist ein Ausschnitt des deutschen Buch-Covers. Credit: Econ Verlag.

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  • Wer keine Sorgen hat, der macht sich welche und untermauert sie auch noch wissenschaftlich... 🤣

  • Eine weitere Ursache könnte sein, dass solche Falschmeldungen aus journalistischer Sicht einfach "origineller" und damit auffälliger sind als die "alltägliche Wahrheit". Journalist/innen wollen, dass ihre Meldungen möglichst gut ankommen. Dafür haben sie vor allem zwei Möglichkeiten:
    1.) Sie finden ein Sensation und berichten darüber.
    2.) Sie erfinden eine Sensation und berichten darüber.
    Nur Qualitätsjournalist/innen haben eine dritte Option:
    Sie gehen in die Tiefe und decken Hintergründe sowie Beweggründe von Geschehnissen auf. Damit erreichen sie aber leider meist nicht die Massen.

  • zu 9: correctiv meldet am Schluss, dass nicht 2,6 sondern 5,3% aller Immigranten als Flüchtlinge anerkannt wurden. Wow, das ändert die Lage ja völlig, Hahaha!! Heißt jetzt, mit "5 von Hundert" wäre die Schlagzeile korrekt, die Aussage der Schlagzeile, dass nur ein verschwindend geringer Anteil der uns immer als "Flüchtlinge" verkauften Menschen tatsächlich Flüchtlingsstatus haben, bleibt also völlig intakt!

  • Zu dieser Thematik fallen mir gleich eine ganze Reihe von Zitaten ein, die belegen, dass die hier behandelten sozialen Wirkungen schon längst bekannt sind und kein wirklich neues Phänomen darstellen.
    „Aus Lügen, die wir ständig wiederholen, werden Wahrheiten, die unser tägliches Leben bestimmen.“ Hegel (1770-1831)
    „Nicht Tatsachen, sondern Meinungen über Tatsachen, bestimmen das Zusammenleben“ Epiktet (um 50 bis 138 n.Chr.)
    Und der größte Unsinn ist der Spruch im Volksmund:
    „wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“
    Richtig ist: „wer ständig lügt, dem glaubt man schließlich“
    oder wenn oft genug Falsches gesagt, gedacht, geschrieben wird, wird es richtig!
    Siehe dazu auch solch banale Dinge, wie die Falschschreibung(sprechung) des Adjektivs extrovertiert.
    Natürlich heißt es extravertiert, aber es wurde die letzten 50 Jahre so oft falsch geschrieben und gesprochen, dass es schließlich in der falschen Form im Duden gelandet ist....
    keep groovin´& over the tellerrand thinkin´´

  • Tja, wenn's nur immer so leicht ginge eine Fake News zu identifizieren. Genau Schritt 3 ist nämlich das Problem - in vielen Fällen lässt sich eben nicht oder erst viel zu spät nachweisen, dass gezielte Irreführung betrieben wird. Und dann ist eine Fake News schon eine gewisse Zeit Fakt News geworden...

  • Ungefähr jedes Merkmal oder jede Manipulationstechnik, die hier exklusiv "rechts" zugeschrieben wird, ist von allen Akteuren im politischen Spektrum in exakt der angeprangerten Form genutzt worden und wird es weiterhin. Die "AfD-Wut" über irgendwas unterscheidet sich beim Facebook-Emoji nicht von der Wut über Lohnungerechtigkeit oder tote Kinder am Strand unter einem taz-Artikel, die patriotische App unterscheidet sich funktional rein gar nicht von gleichartigen Apps, die zur "Vernetzung von Protest" erstellt wurden und nun ja, "Revolutionsversprechen" sind rechts? ... kicher ... schon mal auf 'ner 1.Mai-Demo gewesen?

    • Es gibt signifikant messbare Unterschiede zwischen den Parteien - dass die AfD stärker Wut erntet als andere, ist das Ergebnis dieser Untersuchung von Josef Holnburger: http://holnburger.com/Auf_den_Spuren_des_Wutbuergers.pdf Man kann dort auch alle anderen Parteien ansehen und nachlesen, welche Reaktionen diese ernten. Aber natürlich: Wut ist eine universelle Emotion, gesellschaftlicher Wandel wird oft über Wut erreicht, zB weil Menschen einen unfairen Zustand nicht länger hinnehmen wollen. In meinen Augen macht es einen qualitativen Unterschied, in welche Richtung Parteien Wut einsetzen - problematisch wird Wut meines Erachtens, wenn man sie gegen gesellschaftlich schwächer gestellte Menschengruppen einsetzt

  • Vielleicht nur am Rande (oder auch gar nicht...) interessant, aber hier noch ein kleiner Exkurs zum Thema Technologie und Utopie: Bereits im Zusammenhang mit elektrischer Telegrafie und mit der Verlegung des ersten transatlantischen Unterseekabels in den 1850er/60er Jahren äußerten Zeitgenossen immer wieder die Idee, dass, sobald dieses Kabel verlegt und somit Kommunikation im Minutentakt zwischen Großbritannien und Nordamerika möglich sei, eine Ära immerwährenden Friedens zwischen GB und den USA ihren Anfang nähme. Wer sich minutenschnell austauschen könne, der könne schließlich alle potentiellen Konflikte oder Unstimmigkeiten im Nu aus dem Weg räumen. Bald musste man aber feststellen, dass dem nicht so war, wobei hier unterschiedliche Faktoren ihren Teil dazu beitrugen (hohe Kosten pro Nachricht, weshalb diese stark verkürzt wurden, diplomatisches Prozedere, das mit dieser neuen Form der Kommunikation nur schwer zu vereinbaren war, etc.) - In der britischen Presse der damaligen Zeit wurde diese Entwicklung dann wiederum ausgesprochen reflektiert betrachtet und techniksoziologische Betrachtungen angestellt, die heutigen Ansätzen in nichts nachstehen (ich habe da nur Einblicke in die britische Presse, wie an anderer Stelle darüber geschrieben wurde, weiß ich nicht). Ironischerweise war es dann einige Jahrzehnte später ein Telegramm, mit dem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte...
    Aber wie gesagt... das nur am Rande.
    Ansonsten - schöner Vortrag! Like! Respect! :)

    • Das ist total spannend! Sorry für die späte Antwort, aber hatte den Kommentar noch gar nicht gesehen: Das ist eine extrem interessante Anekdote! Ist das vielleicht irgendwo beschrieben, wo ich mehr dazu lesen kann? Ich sammle solche Beispiele auch gerne, weil man weiß nie, wo man solche Beispiele unterbringen kann... Auf jeden Fall: Danke schön für die interessante Rückmeldung!

  • „Politische Diskussionskultur“ - das ist freilich speziell in Österreich sowieso eine der permanent endangered species.

  • Bald sind wir so durchgeregelt, dass wir gar keinen Spielraum mehr für Meinungsbildung haben und nur noch das politisch Erwünschte denken. Wünsche aber sind keine Rechte. Sie sind höchstens ein Anzeichen verwöhnten Wohlstands, der Befindlichkeiten zum Nachteil aller anderen hochhält, Menschen gegeneinander ausspielt und Beliebigkeit statt Kritik- und Konfliktfähigkeit kultiviert. Haben wir uns zur modernen Wohlstandsgesellschaft entwickelt, um solche Menschen zu werden?

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