X

Das Böse zwischen den Zeilen

Was am Anti-Piraterie-Abkommen Acta wirklich bedenklich ist


“Stoppt die totale Internetüberwachung!“, heißt es vor dem Wiener Parlament. “Alle werden verdächtigt“, warnt ein Plakat in der Innsbrucker Innenstadt. Und in Linz meint einer: “Ich bin zu schön, um zensiert zu werden.“

Zehntausende Menschen protestierten europaweit gegen Acta, das umstrittene “Anti-Counterfeiting Trade Agreement“, also Anti-Produkt-Piraterie-Abkommen. Allein in Wien gingen Mitte Februar mehr als 3000 Menschen auf die Straße, sie fürchten um ihre Freiheit im Netz. Die Politik ist von den Protesten in München, Paris, Dublin überrascht. Österreich hat zwar den Verhandlungsabschluss unterzeichnet, das Dokument aber noch nicht im Parlament ratifiziert. Derzeit geben sich auch heimische Minister zurückhaltender und blicken gespannt nach Straßburg. Alles hängt derzeit vom EU-Parlament ab. Dort werden die Abgeordneten die Weichen stellen, ob Acta in Europa kommt.

Ein Informationskrieg ist ausgebrochen, bei dem beide Seiten nicht ganz die Wahrheit sagen. Im Internet kursieren Videos, die Acta als totales Überwachungsinstrument darstellen, das zwangsläufig zu totaler Zensur führt. Als Reaktion veröffentlicht die EU-Kommission das Dokument “10 Mythen über Acta“. Kurz darauf kontern wiederum Bürgerrechtler mit dem Text: “10 Mythen der EU-Kommission über Acta“.

Wie schlimm ist Acta wirklich? Acta deckt ein riesiges Themenspektrum ab, von der gefälschten Louis-Vuitton-Tasche über den Handel mit Generika-Medikamenten bis hin zum Madonna-Video auf Youtube. Das Abkommen spricht nirgendwo von Zensur, und es führt auch nicht automatisch zum Tod des freien Internets. Und doch lehnen es anerkannte europäische Rechtsprofessoren ab.

Ein Informationskrieg ist ausgebrochen, bei dem beide Seiten nicht ganz die Wahrheit sagen.
Acta wurde hinter verschlossenen Türen ausgefeilt. Unter der Führung der USA und Japan verhandelten Dutzende Staaten mehrere Jahre lang, alle Länder verpflichteten sich zur Verschwiegenheit, selbst die Zwischenberichte durften nicht offengelegt werden. Das Ergebnis: ein 51 Seiten langes Dokument mit schwammigen Passagen, die viel Raum zur Interpretation offenlassen. Und genau diese vagen Passagen führen nun zum Streit.

Zum Beispiel Artikel 27: Bei diesem Absatz reden die Kritiker von Netzsperren, also dass Internetpiraten künftig der Zugang zum Netz verboten werden könnte. Aber das stimmt so nicht. Nirgendwo ist dezidiert von Netzsperren zu lesen, das stand nur in früheren Entwürfen.

In der Endversion hingegen kommt dieses Thema nur zwischen den Zeilen hervor, etwa in Artikel 27, Absatz drei. Hier fordert Acta stärkere “Kooperationsbemühungen im Wirtschaftsleben“, um Urheberrechtsverstöße wirksam zu bekämpfen. Das klingt harmlos – wer hat schon etwas gegen “Kooperation“? Im schlimmsten Fall könnte das aber heißen, so fürchtet manch ein Jurist, dass Internetprovider plötzlich zu Hilfssheriffs werden, die eigenmächtig den Datenstrom ihrer Kunden überwachen.

Das klingt nach George Orwell, diese Ideen gab es aber bereits in Europa. So wollte eine belgische Verwertungsgesellschaft durchsetzen, dass ein Internetanbieter sämtliche Daten seiner Kunden überwachen muss, um illegale Downloads auszufiltern. Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ging das zu weit, er verbot diesen Netzfilter vergangenen November.

Der schwammige Artikel 27 ist repräsentativ für viele Passagen. Acta bleibt so vage, dass eine Interpretation wie Kaffeesudlesen ist. Viele Absätze beinhalten eher Vorschläge als Vorschriften. So betonen die Verfechter des Vertrags, dass Acta die bestehenden Gesetze nicht verändert. Aus dem Justizministerium hört man zum Beispiel, dass die umstrittenen Passagen hierzulande einfach ignoriert werden können. Es gäbe absolut kein Interesse, ohne richterlichen Befehl die Anonymität der Internetuser aufzuheben oder womöglich sogar Menschen aus dem Internet auszuschließen.

Was das Justizministerium nicht sagt: Acta setzt neue Standards im internationalen Recht. Segnet das Europaparlament Acta ab, dann werden die Scharfmacher künftig bei jeder Gesetzesänderung auf den Vertrag pochen. Man könnte sagen: Acta ist nicht so schlimm wie sein Ruf. Aber es öffnet die Tür für spätere Verschärfungen.

Vielleicht sind manche Verschärfungen unausweichlich. Natürlich haben Musiker, Filmstudios und Autoren das gute Recht, dass der Staat ihr Eigentum schützt. Gleichzeitig aber muss sich ein Beschuldigter zur Wehr setzen können. Ein User, der aus dem Netz gesperrt wird, muss dagegen auch Einspruch erheben dürfen.

Doch hier ist Acta unausgewogen. Mehr als 20 der führenden Urheberrechtsprofessoren von der Uni Cambridge bis zum Max-Planck-Institut haben sich gegen Acta ausgesprochen, dem Dokument fehle die “Balance zwischen den Interessen einzelner Parteien“, auch gingen viele Bestimmungen über das bestehende EU-Recht hinaus. In einer gemeinsamen Erklärung fordern die Juristen das Europaparlament auf, den Vertrag nicht zu unterzeichnen.

Einer dieser Juristen ist der Rechtsprofessor Axel Metzger von der Leibniz Universität Hannover. “Acta ist extrem einseitig“, sagt er. Zum Beispiel stört ihn, dass Grenzkontrolleure wesentlich mehr Befugnisse bekommen. Nach Artikel 13 können sie leichter selbst entscheiden, welche Produkte sie an der Grenze beschlagnahmen, sogar der Besitz von privat Reisenden ist womöglich betroffen. Denn laut Artikel 14 können “kleine Mengen von Waren ohne gewerblichem Charakter, die sich im persönlichen Gepäck von Reisenden befinden“ konfisziert werden. Ein mögliches Szenario: Ein Europäer macht in Südkorea Urlaub, kauft sich sichtbar gefälschte Adidas-Turnschuhe. Am Flughafen sagt der Beamte: “Schuhe ausziehen, diese Fälschung ist beschlagnahmt!“

Acta verwischt die Grenze zwischen organisiertem Verbrechen und Internetpiraterie im Wohnzimmer.
Acta verwischt die Grenze zwischen organisiertem Verbrechen und Internetpiraterie im Wohnzimmer. Artikel 9 klärt etwa den Schadenersatz, die Höhe der Strafzahlung soll etwa anhand des “empfohlenen Verkaufspreises“ berechnet werden. Kritiker wie der EU-Parlamentarier Jan Philipp Albrecht von den deutschen Grünen, selbst Jurist, befürchten horrende Strafzahlungen. “Stellen Sie sich vor, jemand lädt ein Youtube-Video ohne Berechtigung hoch“, sagt er. Also zum Beispiel den neuesten Madonna-Song. Dann wird dieses Video 100.000-mal angeklickt, auf iTunes kostet das Lied 99 Cent. Wenn man den Schadenersatz anhand des Verkaufspreis berechnet, muss der Internetuser dann fast 100.000 Euro Strafe zahlen?

Vielleicht ist das nur Alarmismus und kein österreichischer Richter würde das jemals so berechnen. Allerdings schließt Acta nirgendwo aus, dass der Vertragstext so interpretiert werden kann. In den USA gibt es tatsächlich dermaßen harte und abschreckende Urteile. Das Abkommen trägt hier eindeutig eine amerikanische Handschrift.

“Während Zivilorganisationen bei der Entstehung nicht mitreden durften, waren die Großkonzerne im Film- und Musikbereich eingebunden. Das ist der wahre Skandal“, meint Jörg Leichtfried, SPÖ-Abgeordneter im Straßburger Parlament. Das EU-Parlament kritisierte mehrfach, dass es nicht ausreichend informiert wurde. So durften nur einzelne Abgeordnete einen Blick auf die Zwischenversionen des Textes werfen, die gewählten Volksrepräsentanten waren nicht aktiv in die Entstehung des Vertrags eingebunden.

Schließlich trat sogar der zuständige Berichterstatter des EU-Parlaments, Kader Arif, aus Protest zurück. “Ich werde nicht an dieser Maskerade teilnehmen“, schrieb er im Jänner, “ich verurteile den gesamten Prozess, der zur Unterschrift des Vertrags führte. Die Zivilgesellschaft wurde nicht einbezogen, es mangelte seit Beginn der Verhandlungen an Transparenz, die Empfehlungen des EU-Parlaments wurden abgelehnt.“

Nun liegt das fertige Papier im EU-Parlament, ab kommender Woche diskutieren die Abgeordneten darüber, im Juni sollen sie abstimmen. Nach den Protesten gegen Acta rudern einige Politiker zurück. EU-Justizkommissarin Viviane Reding schlägt zum Beispiel vor, den EuGH zu befragen, ob Acta tatsächlich mit europäischem Recht vereinbar ist. Und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) meinte: “Wir werden abwarten, was das Europaparlament tut. Wenn es notwendig ist, werden wir uns gegebenenfalls nochmals mit der Materie befassen.“

Das klingt, als könne man noch über Details von Acta diskutieren. Ein Trugschluss: Der Vertrag ist fertig ausgehandelt, entweder Europa nimmt ihn zu 100 Prozent an oder lehnt ihn zu 100 Prozent ab. Es gibt keine Möglichkeit, einzelne Passagen zu streichen oder abzuschwächen. Dafür müsste ein neuer Vertrag ausgehandelt werden.

Sollte das Europaparlament Nein sagen, ist das erst der Beginn einer neuen Debatte.
“Die Europäischen Sozialdemokraten sind am Weg, sich gegen Acta zu entscheiden“, sagt der Abgeordnete Leichtfried. Die Grünen sind schon seit jeher dagegen, die Konservativen seit jeher dafür. Die Liberalen könnten schlussendlich entscheiden: Setzt sich in ihrer Fraktion der wirtschaftsliberale Flügel durch, der die Rechte der Urheber wahren will? Oder sind es doch die Gesellschaftsliberalen, die eine Benachteiligung der Bürger fürchten?

Sollte das Europaparlament Nein sagen, ist das erst der Beginn einer neuen Debatte. Derzeit werden Rufe laut, dass Europa aktiv werden muss. Zuerst soll sich die EU einigen, wie sie sich das Urheberrecht im 21. Jahrhundert vorstellt und wie man es auch online durchsetzen kann. Erst dann möge man internationale Verträge wie Acta abschließen.

 

Dieser Artikel ist in Falter 8/12 erschienen. Fotos: Christian Stipkovits 

View Comments

  • Wer keine Sorgen hat, der macht sich welche und untermauert sie auch noch wissenschaftlich... 🤣

  • Eine weitere Ursache könnte sein, dass solche Falschmeldungen aus journalistischer Sicht einfach "origineller" und damit auffälliger sind als die "alltägliche Wahrheit". Journalist/innen wollen, dass ihre Meldungen möglichst gut ankommen. Dafür haben sie vor allem zwei Möglichkeiten:
    1.) Sie finden ein Sensation und berichten darüber.
    2.) Sie erfinden eine Sensation und berichten darüber.
    Nur Qualitätsjournalist/innen haben eine dritte Option:
    Sie gehen in die Tiefe und decken Hintergründe sowie Beweggründe von Geschehnissen auf. Damit erreichen sie aber leider meist nicht die Massen.

  • zu 9: correctiv meldet am Schluss, dass nicht 2,6 sondern 5,3% aller Immigranten als Flüchtlinge anerkannt wurden. Wow, das ändert die Lage ja völlig, Hahaha!! Heißt jetzt, mit "5 von Hundert" wäre die Schlagzeile korrekt, die Aussage der Schlagzeile, dass nur ein verschwindend geringer Anteil der uns immer als "Flüchtlinge" verkauften Menschen tatsächlich Flüchtlingsstatus haben, bleibt also völlig intakt!

  • Zu dieser Thematik fallen mir gleich eine ganze Reihe von Zitaten ein, die belegen, dass die hier behandelten sozialen Wirkungen schon längst bekannt sind und kein wirklich neues Phänomen darstellen.
    „Aus Lügen, die wir ständig wiederholen, werden Wahrheiten, die unser tägliches Leben bestimmen.“ Hegel (1770-1831)
    „Nicht Tatsachen, sondern Meinungen über Tatsachen, bestimmen das Zusammenleben“ Epiktet (um 50 bis 138 n.Chr.)
    Und der größte Unsinn ist der Spruch im Volksmund:
    „wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“
    Richtig ist: „wer ständig lügt, dem glaubt man schließlich“
    oder wenn oft genug Falsches gesagt, gedacht, geschrieben wird, wird es richtig!
    Siehe dazu auch solch banale Dinge, wie die Falschschreibung(sprechung) des Adjektivs extrovertiert.
    Natürlich heißt es extravertiert, aber es wurde die letzten 50 Jahre so oft falsch geschrieben und gesprochen, dass es schließlich in der falschen Form im Duden gelandet ist....
    keep groovin´& over the tellerrand thinkin´´

  • Tja, wenn's nur immer so leicht ginge eine Fake News zu identifizieren. Genau Schritt 3 ist nämlich das Problem - in vielen Fällen lässt sich eben nicht oder erst viel zu spät nachweisen, dass gezielte Irreführung betrieben wird. Und dann ist eine Fake News schon eine gewisse Zeit Fakt News geworden...

  • Ungefähr jedes Merkmal oder jede Manipulationstechnik, die hier exklusiv "rechts" zugeschrieben wird, ist von allen Akteuren im politischen Spektrum in exakt der angeprangerten Form genutzt worden und wird es weiterhin. Die "AfD-Wut" über irgendwas unterscheidet sich beim Facebook-Emoji nicht von der Wut über Lohnungerechtigkeit oder tote Kinder am Strand unter einem taz-Artikel, die patriotische App unterscheidet sich funktional rein gar nicht von gleichartigen Apps, die zur "Vernetzung von Protest" erstellt wurden und nun ja, "Revolutionsversprechen" sind rechts? ... kicher ... schon mal auf 'ner 1.Mai-Demo gewesen?

    • Es gibt signifikant messbare Unterschiede zwischen den Parteien - dass die AfD stärker Wut erntet als andere, ist das Ergebnis dieser Untersuchung von Josef Holnburger: http://holnburger.com/Auf_den_Spuren_des_Wutbuergers.pdf Man kann dort auch alle anderen Parteien ansehen und nachlesen, welche Reaktionen diese ernten. Aber natürlich: Wut ist eine universelle Emotion, gesellschaftlicher Wandel wird oft über Wut erreicht, zB weil Menschen einen unfairen Zustand nicht länger hinnehmen wollen. In meinen Augen macht es einen qualitativen Unterschied, in welche Richtung Parteien Wut einsetzen - problematisch wird Wut meines Erachtens, wenn man sie gegen gesellschaftlich schwächer gestellte Menschengruppen einsetzt

  • Vielleicht nur am Rande (oder auch gar nicht...) interessant, aber hier noch ein kleiner Exkurs zum Thema Technologie und Utopie: Bereits im Zusammenhang mit elektrischer Telegrafie und mit der Verlegung des ersten transatlantischen Unterseekabels in den 1850er/60er Jahren äußerten Zeitgenossen immer wieder die Idee, dass, sobald dieses Kabel verlegt und somit Kommunikation im Minutentakt zwischen Großbritannien und Nordamerika möglich sei, eine Ära immerwährenden Friedens zwischen GB und den USA ihren Anfang nähme. Wer sich minutenschnell austauschen könne, der könne schließlich alle potentiellen Konflikte oder Unstimmigkeiten im Nu aus dem Weg räumen. Bald musste man aber feststellen, dass dem nicht so war, wobei hier unterschiedliche Faktoren ihren Teil dazu beitrugen (hohe Kosten pro Nachricht, weshalb diese stark verkürzt wurden, diplomatisches Prozedere, das mit dieser neuen Form der Kommunikation nur schwer zu vereinbaren war, etc.) - In der britischen Presse der damaligen Zeit wurde diese Entwicklung dann wiederum ausgesprochen reflektiert betrachtet und techniksoziologische Betrachtungen angestellt, die heutigen Ansätzen in nichts nachstehen (ich habe da nur Einblicke in die britische Presse, wie an anderer Stelle darüber geschrieben wurde, weiß ich nicht). Ironischerweise war es dann einige Jahrzehnte später ein Telegramm, mit dem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte...
    Aber wie gesagt... das nur am Rande.
    Ansonsten - schöner Vortrag! Like! Respect! :)

    • Das ist total spannend! Sorry für die späte Antwort, aber hatte den Kommentar noch gar nicht gesehen: Das ist eine extrem interessante Anekdote! Ist das vielleicht irgendwo beschrieben, wo ich mehr dazu lesen kann? Ich sammle solche Beispiele auch gerne, weil man weiß nie, wo man solche Beispiele unterbringen kann... Auf jeden Fall: Danke schön für die interessante Rückmeldung!

  • „Politische Diskussionskultur“ - das ist freilich speziell in Österreich sowieso eine der permanent endangered species.

  • Bald sind wir so durchgeregelt, dass wir gar keinen Spielraum mehr für Meinungsbildung haben und nur noch das politisch Erwünschte denken. Wünsche aber sind keine Rechte. Sie sind höchstens ein Anzeichen verwöhnten Wohlstands, der Befindlichkeiten zum Nachteil aller anderen hochhält, Menschen gegeneinander ausspielt und Beliebigkeit statt Kritik- und Konfliktfähigkeit kultiviert. Haben wir uns zur modernen Wohlstandsgesellschaft entwickelt, um solche Menschen zu werden?

  • 1 24 25 26 27 28 38